‚„Du hast Deine Mitte verloren!“, was für ein esoterischer Kitsch!‘ – der Zorn, den er mit der Erinnerung an den gestrigen Abend wieder in sich aufleben lassen wollte, fühlte sich matt und künstlich an, so recht glauben konnte er ihm nicht mehr .
Er stand am Fenster seiner Kanzlei und betrachtete die aufblühende Magnolie im Vorgarten der Stadtvilla, in die er vor etwa einem Jahr mit seinem Büro und seinen acht Angestellten gezogen war. Er war sich nicht sicher, ob er sie jemals zuvor überhaupt wahrgenommen hatte, vielleicht hatte sie damals, als sie eingezogen waren, ihre Blüten bereits wieder abgeworfen. „Du bist schön!“, sagte er laut, die anderen waren schon gegangen, er war ganz allein im Büro: „Du bist wirklich schön!“, wiederholte er, jede Silbe einzeln aussprechend, sich dabei selbst zuhörend, wie seine Stimme klinge, ob sie sich verändert habe, seine Stimme, auf die er ganz besonders stolz war, die ihn immer verlässlich begleitet hatte und stets beteiligt gewesen war an seinen Siegen vor Gericht. Und ja, er fand sie tatsächlich energielos, zweifelnd, ohne diese Entschiedenheit, die sie sonst ausmachte, weit weg von ihrer glasklaren Präsenz, mit der er so überzeugend klingen konnte.
„Meine Mitte!“ er versuchte, das Wort zu verhöhnen. Seine Leidenschaft und sein Sport waren das Boxen und ‚die Mitte‘ war für ihn der Solarplexus, dieses empfindsame Nervengeflecht um die Bauchschlagader herum, das zu schützen er meisterlich gelernt hatte. Mit dieser Art gefühlsduseliger Sensibilität, mit der die ‚Mitte‘ zu irgend einem diffusen Wohnort einer Seele gemacht wurde, den und die man verlor, wenn man pragmatisch dachte und lebte, konnte er nichts anfangen, das hatte er ihr durch sein Verhalten ja wohl auch unmissverständlich zu verstehen gegeben! Sie hatten sich gestern nach zwanzig Jahren wiedergesehen, damals hatten sie gemeinsam studiert, waren auch für kurze Zeit ein Paar gewesen, hatten sich aber nach dem Studium bald wieder aus den Augen verloren. Und jetzt dieses Wiedersehen! „Du bist noch klüger und attraktiver geworden, Klaus!“, hatte sie nach einem aus seiner Sicht recht unterhaltsamen Abend gesagt und die Brust unter seinem blütenweißen Hemd war ihm schon stolz geschwollen, wie er es liebte: bis zu dem Gefühl, dass gleich der erste Hemdknopf abplatzen werde, als sie von unten herauf diesen unseligen Zusatz ausgesprochen hatte, der ja wohl der eigentliche Hauptsatz sein sollte: „Aber Du hast Deine Mitte verloren!“
Charmant und eloquent hatte er sich über die Situation hinweggeredet, das Abendessen für beendet erklärt, sich mit großer Deutlichkeit verabschiedet und keine zehn Minuten nach ihrer Bemerkung tief durchatmend und wieder allein vor seinem heiß geliebten Porsche gestanden.
Aber etwas hatte ihn davon abgehalten, gleich einzusteigen, er kannte diese Art Schwäche nur zu gut, diesen nach einem Lebertreffer sich zeitverzögert einstellenden Eingeweideschmerz, der einem das Mark aus den Knochen zog. Sie hatte ihn erwischt, einfach kalt erwischt mit diesem blödsinnigen Ausdruck!
Er hatte das noch wie ein Wissenschaftler von außen betrachten können, neugierig, fest davon überzeugt, Herr der Lage zu bleiben: es war doch interessant, wie eine Bemerkung, die sein Kopf als vollkommen bedeutungslos ablehnte, von seinem Körper offensichtlich ganz anders eingeordnet wurde! Eine ganze Weile war er noch spazieren gegangen und erst, als er sich beruhigt hatte, nach Hause gefahren.
‚Na gut, vielleicht glaubt man viel öfter, als man meint, die eigene Sichtweise sei die einzig richtige‘, versuchte er jetzt in der Erinnerung an gestern die Situation mit einem Maß an Selbstkritik zu umkreisen, das ihm noch nicht gefährlich werden konnte. Auch diese Magnolie hier hatte er ja offensichtlich bis heute kaum beachtet, obwohl er ein Jahr lang fast jeden Tag ganz nah an ihr vorbeigegangen war! Das zeigte doch schon, wie sehr man von seinen persönlichen Interessen befangen, wie – unvollständig man wahrnahm! „Sie ist wirklich schön!“, sprach er noch einmal laut, und diesmal meinte er, was er sagte – ging aber, als er einen leichten Schwindel verspürte, sofort wieder dazu über, den zurückliegenden Tag zu analysieren.
Heute Morgen hatte er den zweiten Treffer einstecken müssen. Als er ins Büro gekommen war, hatte auf seinem Schreibtisch die Akte Uwe W. gelegen, ein längst abgeschlossener Fall, es hatte nur noch einer Unterschrift bedurft. Mit größtem Widerwillen hatte er die Akte geöffnet, und alles war wieder hochgekommen: der gewonnene Prozess, sein Unwohlsein damit und der Entschluss, den Fall so schnell wie möglich zu vergessen. Moralische Bedenken wie diese hatte er bisher nur aus schlechten Filmen gekannt: Der Verteidiger gewinnt den Prozess, in dessen Verlauf ihm bewusst geworden ist, dass sein Mandant in allen Punkten schuldig ist, und verfällt dadurch in Selbstzweifel. Nein, er hatte nie einen Grund gesehen, an seinem doch klaren Auftrag zu zweifeln, der ihn dazu verpflichtete, die Interessen des Angeklagten zu vertreten und dabei sein ganzes Können und Wissen einzusetzen. Das hatte er auch hier getan, und zwar sehr erfolgreich, alle hatten ihm gratuliert nach dem Prozess! Als dann aber der Kläger an ihm vorbeigekommen war und ihn angeschaut hatte, da hatte er einen Moment nicht aufgepasst, hatte seine Deckung vernachlässigt, war schutzlos gewesen gegen den Blick eines Menschen, der einfach nur gesagt hatte: „Das war Unrecht!“.
Die Schwäche von gestern Abend, die er längst überwunden geglaubt hatte, war wieder in ihm aufgestiegen, von innen heraus, aus den Eingeweiden war sie in seine Muskulatur eingesickert, und ihm war klargeworden, dass er schwerer getroffen war, als er geglaubt hatte, der Boden war unsicher geworden unter seinen Füßen, und er hatte sich energisch zu seinem gewohnten Selbstbewusstsein zurückrufen müssen, um sich nach außen hin nichts anmerken zu lassen.
Der entscheidende Schlag aber hatte ihn eben erst getroffen, vor gerade zehn Minuten, und er hatte sofort gewusst, dass er endgültig sein werde. Er hatte sich gerade fertig gemacht, um nach Hause zu gehen, als der Anruf von Laura gekommen war. An ihrer Stimme hatte er sofort bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war und er war vorbereitet gewesen:
Mit allen drei Schwestern war er seit langem gut befreundet, sie kannten sich schon von der Schulzeit her: Laura, die Älteste, Klara, Anwältin wie er, mit der er sich häufig traf, um Berufliches auszutauschen, und dann eben die Jüngste, Sophie, die vor jetzt schon acht Jahren die Diagnose einer Krebserkrankung hatte hinnehmen müssen und die dank ihres unerschütterlichen Lebenswillens immer wieder in die Remission gekommen war, was unter den Ärzten inzwischen schon als ein Wunder galt. Aber man hatte natürlich irgendwo jenseits von Vertrauen und Hoffnung auch immer mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass ihr Kampf einmal verloren gehen könne.
Ohne, dass ihm dies bewusst gewesen wäre, lag in ihm alles, was er in diesem Fall hätte sagen können an tröstenden Worten, wie auf Abruf bereit, und als Laura dann tatsächlich gesagt hatte: „Wir haben uns von unserer Schwester verabschieden müssen, Klaus…“ , da hatte er schon Luft geholt, um auszusprechen, was sich in ihm vorbereitet hatte.
Aber da hatte Laura, erschrocken über ihr Versäumnis, etwas Wesentliches nicht erwähnt zu haben, rasch hinzugefügt: „Klaus, es ist nicht die Kleine, nicht die Kleine, es ist Klara! Sie ist… die Kellertreppe … sie ist ganz unglücklich auf den Kopf … sie war sofort tot.“
Nur ein einziges Mal in seiner Boxerkarriere hatte er einen echten K.O. hinnehmen müssen, das war vor etwa fünf Jahren gewesen, aber die Erinnerung daran war das Erste, was ihm in den Sinn gekommen war, als sich zwischen ihm und Laura dieses uferlose Schweigen ausgebreitet hatte: Damals hatte er noch im Fallen glasklar gedacht, war alle Strategien noch einmal durchgegangen, hatte die Fehler analysiert, für die Zukunft Schlüsse gezogen und die Taktik nachgebessert, blitzartig hatte er einen gedanklichen Kreis gezogen in dem Versuch, etwas auszuschließen, was dennoch als fühlbare Gewissheit unerschütterlich dagestanden hatte, während er zu Boden gegangen war: Es ist zu spät, Du kannst nichts mehr machen. Aus.
Diesmal hatte er dieses „Aus“ als vollkommene Sprachlosigkeit erlebt, während er sich selbst zugehört hatte, wie er in das Schweigen hinein etwas Tröstendes sagte und seine Hilfe anbot, ohne das Schweigen damit auflösen zu können. Er hätte jetzt auch nicht mehr sagen können, wie sie das Gespräch beendet hatten: Eine Art Graben war entstanden zwischen der Nachricht und diesem „Jetzt“, in dem er hier am Fenster stand und die Ereignisse seit gestern Abend noch einmal durchging, in dem ohnmächtigen Versuch, eine Kontinuität zu beschwören, die es nicht mehr gab.
Klara. Morgen hätte man sich wieder treffen wollen. Sie war die andere Art Anwältin gewesen, ja, sicher: menschlicher als er, weiblich eben, dafür nicht ganz so erfolgreich! Oh je, was für ein Unsinn! Weiblich! Nicht so erfolgreich! Himmel! Sie war einfach… sie war eine Freundin! Hatte er nicht immer heimlich gedacht, dass er sich sicher fühlen konnte mit seiner mehr abstrakten, erfolgsorientierten Art, solange sie, Klara, ihm die Freundschaft nicht kündigte? Hatte er nicht immer gewusst, dass ihm etwas bitter fehlte, das er in ihr wie deponiert hatte?
Er ließ nicht zu, dass auch nur ein Bild ihres Sturzes vor sein inneres Auge kam, er ließ es nicht zu! Er wollte das nicht sehen!
Und dann fühlte er, wie er fiel. Er stand aufrecht am Fenster, kein Zweifel, aber er, er!, mein Gott!, trotzdem der Körper stand, er fiel! Er konnte sich die Bilder verbieten zu sehen, aber er ging mit ihr zu Boden, fiel ihr hinterher. Und das konnte er nicht mehr stoppen. Hastig nahm er sein Jackett und verließ die Kanzlei.
Als er ins Freie trat, wehte ihn die laue Frühlingsluft freundlich an, und er blieb stehen, um sich für einen Moment die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen.
Von einem Windstoß aus den Kronen gefegt, wirbelten ein paar vertrocknete Blätter vor ihm durch die Luft, die noch an ihren Bäumen hatten überwintern können, um erst jetzt der nächsten Generation zu weichen. Eins davon flog ihm mitten zwischen die Augen, so dass er sie reflexhaft schließen musste und für einen Moment ohnmächtig dastand wie von Blindheit geschlagen.
‚Das passt ja!‘, dachte er ärgerlich, ‚heute hat sich wohl alles gegen mich verschworen!‘, während er nach dem Blatt greifen wollte. Aber der Wind hatte ihm die Arbeit schon abgenommen und als er die Augen öffnete, tanzte das Blatt vor ihm – wollte es ihn denn verhöhnen?- seinen wilden letzten Tanz.
Dann aber – er stand immer noch ein wenig betäubt da und sein Blick folgte fast willenlos dem Schauspiel – ging der Tanz in ein sanftes Segeln über, das Blatt gab sich ganz dem nachlassenden Wind hin, der es immer wieder auffing und ein kleines Stück hinauftrug, wie um ihm noch einmal zu ermöglichen, Abschied zu nehmen von der Baumkrone, die ein Jahr lang seine Heimat gewesen war, und es dann allmählich näher, näher und immer näher der Erde zu bringen.
Fasziniert waren seine Augen diesem Flug gefolgt, und was er sah, hatte sich zunächst nur mit dem Gefühl seines eigenen Fallens verbunden. Kurz, bevor das Blatt auf dem Boden aufkam, sah er dann aber plötzlich all die Bilder vor sich, die er sich seit dem Anruf Lauras verboten hatte anzuschauen: er sah den Sturz Klaras in allen Details, nichts ließ er aus, was seine Phantasie ihm ausmalen wollte, auch nicht all die Gedanken und Gefühle, die er, ja – die er mit ihr teilte, als er sie, die Freundin, stürzen sah. Er sah einen Film vor sich, der vollständiger nicht hätte sein können … bis auf das letzte Bild, das sich ihm nicht mehr zeigen wollte. Stattdessen sah er vor sich wieder das Blatt, wie es nach einer letzten Drehung um sich selbst mit unendlicher Sanftheit vom Wind, von der Luft, von einem Hauch… auf der Erde abgelegt wurde, so zart, wie eines Menschen Hand es nie vermocht hätte.
Und in dem längsten Augenblick seines Lebens, aus der Tiefe einer uralten, von nichts zu trübenden Freude, die wie ein leises, wohlvertrautes Lied in ihm aufstieg, als dies letzte Bild seinen und den Sturz Klaras in Eins zusammenführte, fiel seine Entscheidung.
( 17.05.2013 )