Herr Q. grüßt aus dem Diesseits

Den Ort, an dem Herr Q. jetzt wohnt, „Diesseits“ zu nennen, ist mir sehr viel sympathischer als „Jenseits“ zu sagen, geschweige denn als in diesem Zusammenhang von „Tod“ zu sprechen. Ich habe kaum etwas Lebendigeres getroffen als eben diesen Herrn Q., den ich etliche Jahre in seiner Demenzerkrankung begleitet habe. Nie zuvor ist es mir derart unmöglich geworden, mir „Leben“ als etwas vorzustellen, was „abreißen“ kann und was ein Ende in der Zeit hat. Das ist vielleicht die Essenz dessen, was ich von Herrn Q. gelernt habe, bei dem ich in der Lehre gewesen bin, obwohl ich äußerlich als sein Betreuer fungiert habe.

In seiner Sehnsucht nach einem stabilen inneren Frieden erzählt Herr Q. immer wieder von seiner Kindheit auf dem elterlichen Hof in Schlesien, einer Zeit, auf die er aus der Distanz von mehr als siebzig Jahren zurückblickt.

Die Frage, wer wir sind und wo unsere wahre Heimat ist, ist ja auch der Kern jeder Spiritualität – oder besser gesagt: der Kern des Rätsels, das jeder Mensch mit sich in diese Welt bringt. Für Demenzkranke wird seine Lösung und Beantwortung allerdings eine existentielle und akute Notwendigkeit: Alle „Insellösungen“, die wir unterwegs als Kompromisse finden mögen – Entwicklung einer Persönlichkeit, berufliche Karriere, Familie, Partnerschaft, Besitz, Ideologien, spirituelle Wege – sind ihnen zerbrochen am mehr oder weniger drastischen Versagen ihrer kognitiven Fähigkeiten.
In jedem Seniorenheim gibt es herzzerreißende Szenen scheiternder Versuche, „Heimaten“, die einmal gegolten haben, wiederzufinden. Lieder aus der Kindheit sind oft ein kleiner Anker dieser uferlosen Suche.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Herr Q. so oft von der Heimat seiner Kindertage erzählt, die er als sehr glücklich erlebt hat – bis die Familie von den Russen vertrieben, der Vater verschleppt wurde und die „heile Welt“ plötzlich nicht mehr existierte. Bis dahin wurde der noch kleine Junge wie seine Geschwister von den Eltern geachtet und es gab wichtige Aufgaben auf dem Hof, die ihm übertragen waren und die er stolz und gerne ausfüllte. Vor allem die Arbeit mit den Tieren machte ihm große Freude.

Wenn er jetzt davon erzählt, kommt die Sprache wie ungefähr immer wieder auf einen ganz besonderen Baum, der mitten auf dem Vorplatz des Hofes vor dem Haupteingang stand. Ganz offensichtlich hat dieser Baum in der Erinnerung von Herrn Q. eine große symbolische Bedeutung. Im Laufe der Zeit haben wir, die wir ihm zugehört haben, das Gefühl bekommen, dass da von Herrn Q.’s Lebensmitte die Rede ist, vom Zentrum all dessen, was er damals mit „Heimat“ verbunden hat.
Dieser Baum – offensichtlich ein Birnbaum – habe zweierlei Sorten Früchte getragen. Auch das hören wir immer wieder: eine große in der typischen Birnenform und eine kleinere eher runde.

Dieses Detail hat für uns Zuhörer den etwas mystischen Charakter der Erzählungen von der „Heimat“ verstärkt. Es wird nie so ganz klar, inwieweit wir da einer realistischen Beschreibung oder einer von der Erinnerung umgestalteten Legende lauschen. Aber „der Baum“ ist dennoch immer sehr deutlich „da“.

Als Herr Q. spürt, dass er die Welt seines Liebens und Leidens bald verlassen muss, stellt er die Frage nach seiner „Heimat“ und seiner Identität nicht weiter uns, die wir ihm nur mit den eigenen Fragen antworten können, sondern richtet sie direkt an den Himmel. Die Antwort kommt prompt und auf höchst liebenswürdige Art und Weise, ganz, wie es dem Bittenden entspricht – als ein zärtliches Wunder der Versicherung, dass das wahre Zuhause nie verloren gehen kann.

*

Herr V. hat am Flughafen ein Taxi genommen, um auf dem direkten Weg in das kleine Seniorenheim vor den Toren Hamburgs zu gelangen. Er freut sich sehr auf das Wiedesehen mit seinem Bruder, den er einmal im Jahr besucht.

Herr V. ist ein kerniger Achtzigjähriger, dem die Abenteuerlust anzusehen ist: In den 1960ern aus dem Schwabenland »nach Amerika« ausgewandert, wurde er in Anchorage, der heute mit Abstand größten Stadt Alaskas, als Landschaftsgärtner mit einem rasch wachsenden Unternehmen reich. Durch und durch ein Kind der Natur, hat er lange Jahre neben seinem Beruf in einer Bären-Aufzuchstation gearbeitet und ist „natürlich“ auch bei den legendären Alaska-Hundeschlittenrennen mit dabei gewesen. Auch heute pflegt er noch Kontakte zu den Eskimos. Zehn Kilometer Fußmarsch sind für den in die Jahre gekommenen Draufgänger tägliche »Erfrischung“ und Fitnessprogramm.

In diesem Jahr hat sich der Besuch bei seinem Bruder verzögert, weil Herrn V.s bester Freund, Herr A., ebenfalls ein Immigrant aus Deutschland, nachdem er bei einem schweren Skiunfall nur knapp mit dem Leben davongekommen ist, seine Hilfe benötigt hat. Herr V. hat seinen Freund treu über die gesamte Zeit der Rekonvaleszenz begleitet und tritt den Flug zu seinem Bruder erst an, als es Herrn A. wieder besser geht.

Jetzt ist er also endlich da und kann seinen Bruder, der von der Parkinson-Krankheit schwer gebeugt ist und kaum noch mit seinen Mitbewohnern kommunizieren kann, endlich in die Arme schließen. Er trifft ihn in der gemütlich eingerichteten Wohnküche an, wo sich die Bewohner zum Abendessen eingefunden haben.
Schon als er den Raum betritt, geht ein Raunen durch den Saal: Der Gleichaltrige, der anders als die meisten der Anwesenden vor Lebensenergie, Gesundheit und Fitness fast aus den Nähten platzt und dabei eine solch natürliche und alle mit in den Arm nehmende Freundlichkeit und Unmittelbarkeit ausstrahlt, erobert die Herzen der Bewohner – die zum weit überwiegenden Teil Bewohnerinnen sind – im Sturm.
Nach der ausgiebigen Begrüßung des Bruders setzt er sich dann auch mitten in die Gruppe seiner Altersgenossen, zeigt Fotos herum, auf denen er in inniger Umarmung mit einem ausgewachsenen Grizzly zu sehen ist und erzählt vom wilden Leben in Alaska, als wäre es die letzte Vorbesprechung für einen gemeinsamen Ausflug dorthin.
Das wiederholt sich nun für die Zeit seines Besuchs jeden Abend, und der begnadete Erzähler wird von den Bewohnern jedesmal mit aufgeregter Spannung erwartet.

Auch Herr Q., der dem Zimmer des Bruders von Herrn V. schräg gegenüber wohnt und mit ihm im selben Speisesaal die Mahlzeiten einnimmt, hört allabendlich aufmerksam diesen Erzählungen zu.

Seine Gedanken gehen zu seinem Cousin, mit dem er als Kind so oft in Schlesien auf dem elterlichen Hof gespielt hat. Viele Szenen dieser Zeit ziehen an seinem inneren Auge vorbei, die unbeschwerte Kindheit, die Bedrängnis durch die russischen Soldaten, die Vertreibung. Und er erinnert sich, wie sein Cousin nach wenigen Jahren in Deutschland den Entschluss fasst, nach Amerika auszuwandern … wie dann irgendwann die Postkarte mit der Adresse eintrifft: „Anchorage in Alaska“. Zwei Mal hat man telefoniert, aber dann ist der Kontakt abgebrochen.

Ein paar Tage lang verbirgt Herr Q. eine bange und gleichzeitig hoffnungsvolle Frage in seinem Herzen, die er endlich seiner Tochter, die ihn jeden Abend beim Abendessen begleitet, anvertraut: »Vielleicht kennt ja der Herr V. meinen Cousin?« Auch die Tochter braucht ein wenig Anlauf, bis sie Herrn V. die vermeintlich peinliche Frage stellt, ob Herr V. vielleicht zufälligerweise und man weiß ja nie … den Herrn A. kenne?

Du ahnst es schon: Herr V. kennt Herrn A. nicht nur, es ist besagter Freund, dem er in den letzten Monaten nach dessen Skiunfall geholfen hat, sich wieder im Leben zurechtzufinden und seine Heimat wieder zu erobern, wenn man das so sagen will.

Ein kollektives »Unglaublich!« liegt in der Luft, als Herr V. von seinem Freund berichtet und ihrer schon lange währenden herzlichen Beziehung zueinander. Die Symbolkraft einer so unwahrscheinlichen und offensichtlich zufälligen „Wiederbegegnung“ zwischen Herrn Q. und seinem Cousin rührt besonders bei den einsamen Heimbewohnern an archaische Sehnsüchte nach einem Wieder-heil-Werden, nach Versöhnung und nach einem Ungeschehenmachen all des Trennenden und all der Verluste, die der Einzelne in seinem Leben erlebt haben mag.

Irgendwann stellt sich heraus, dass Herr V. auf einer Wohnmobilreise durch Europa, die er vor zwei Jahren unternommen hat, auch im jetzigen Polen gewesen ist, wo er im Schuppen des Elternhauses von Herrn A. das große hölzerne Namensschild der Familie gefunden und es Herrn A. nach Alaska mitgebracht hat.

Da wird Herr Q. zum ersten Mal für einen Moment ganz still. Der Klang des vertrauten Familiennamens aus dem Mund eines ihm gänzlich fremden Herrn aus »Alaska« – dem Inbegriff des fernen Landes –, schlägt in ihm eine Saite an … und nicht nur in ihm. Etliche Tränen sieht man in den Augen nicht nur von Herrn Q., Tränen der Trauer über Verlorenes und der Freude über Wiedergewonnenes. Und ich glaube, an diesem Abend weht auch viel Wind durch das vermeintlich fest verfugte Weltbild des Herrn V., der sich als den Auslöser eines von ihm unbeabsichtigten emotionalen Erdbebens erlebt, das sich bis in den späten Abend in einer veritablen Wohnbereichsfete austoben darf, die sicher noch lange für Gesprächsstoff unter den Bewohnern sorgen wird.

Herr Q. aber bleibt an diesem Abend still und nachdenklich. Es ist ihm, als sei die Antwort auf all seine Fragen schon ganz nah, er kann sie wie von ferne bereits hören.

*

Was meinst du? Ist hinter und in dem, was wir in unserem Leben als „Geschehen“ erfahren, das Wunder dessen, was wahrhaft geschieht, immer zu sehen oder zu spüren? Wie oft sehe ich tatsächlich, dass nichts anderes „geschieht“ als die Heilung des Geistes in das Gewahrsein der Allverbundenheit?

Die Wunder sind eine Gelegenheit, „das Wunder“ unseres unveränderlichen EINSSEINS noch im Rahmen unserer Wahrnehmung sozusagen für einen kurzen Moment mit Händen greifen zu können.
Wenn uns diese glücklichen Momente als Hilfe gegeben sind und ich dies wirklich als „Gabe“ sehen will, wird eine Frage unausweichlich:
Ist für mich hinter einem Geschehen, zu dem ich „Wunder“ sage, ein Wille zu spüren, der lenkt und leitet, der die Macht hat, die Ereignisse in hilfreicher Weise zu formen? Oder sollte ich besser auf dem Teppich der Realität bleiben und eine »Glücksstunde des Schicksals« unterstellen, wie sie sich eben hin und wieder ereignet, ohne einen »göttlichen Willen« bemühen zu müssen, der die Fäden zieht? Will ich „Heilung“ tatsächlich als das einzige wahre „Geschehen“ akzeptieren, für das ich lediglich blind sein, das ich aber nie außer Kraft setzen kann? Liegt wirklich alles nur an meiner Sicht?
Ich möchte seit langem gerne „Ja“ zu dieser wahrhaft wunderbaren Perspektive sagen: Da ist ein heilender WILLE, mit dem ich mich identifizieren kann, weil es mein eigener, eigentlicher Wille ist. Dafür werde ich nach wie vor täglich und tausendfach wieder blind. Aber das „Ja“ bleibt, und es holt mich immer wieder ab. Die Wunder helfen tatsächlich sehr, ihm treu zu bleiben.

Das Wunder hat einen langen Athem. Es ist immer um uns als die Anwesenheit der LIEBE und erwartet nur unsere Bereitschaft, es zu sehen. Und genau auf einen solchen Moment steuern auch die Ereignisse um Herrn Q. zu, damit die „Geschichte“ ihr Gewand des Erzählbaren, des Herzeigbaren und Begreifbaren ablegen und sich allen Beteiligten und jedem, der sie hören will, für einen ewigen Augenblick als die Botschaft einer universellen Wahrheit zeigen kann:

*

Am nächsten Tag wird selbstverständlich Familienzusammenführung betrieben und mit Hilfe der enthusiastischen Vermittlung durch Herrn V. telefoniert Herr Q. mit seinem Cousin Herrn A. in Alaska. Der einzig mögliche zeitliche Treffpunkt ist die späteste Zubettgehzeit Herrn Q.s, nämlich neun Uhr am Abend, die der frühestmöglichen Aufstehzeit Herrn A.s in dem um zehn Stunden zeitverschobenen Alaska passgenau entspricht.

Die beiden betagten „Spielkameraden“ erkennen sich unmittelbar am Tonfall, obgleich sie sich viele, viele Jahre nicht gesehen oder gesprochen haben. Herr Q. ist klar und gesammelt, aus großer Tiefe heraus kommen seine Fragen und Antworten in Begriffen, die er lange nicht mehr benutzt hat und die man schon für ihn verloren glaubte. Es ist ein einziges Einander-in-den-Arm-Nehmen der beiden und da baut sich die Antwort auf die Frage nach der Heimat und dem »Wer bin ich?« bereits groß vor uns allen auf, um schließlich auf eine wahrhaft überraschende Weise endgültig gegeben zu werden:

Wie beiläufig erzählt Herr V. nach dem Telefonat erneut von seinem zwei Jahre zurückliegenden Besuch in Polen. Er hat damals auch den elterlichen Hof des Herrn Q. besucht, weil er von seinem Freund Herrn A. wusste, dass die beiden Jungen dort oft zusammen gespielt hatten.
Jede Pore Herrn Q.s öffnet sich bei diesen Worten. Man spürt, wie er ganz und gar dabei ist, als Herr V. den Ort seiner glücklichen Kindheit betritt.

Als dieser aber im Plauderton erzählt, dass da auf dem Vorplatz, direkt vor dem großen Eingang des Haupthauses, ein Birnbaum gestanden habe mit zweierlei Früchten: großen birnenförmigen und kleineren runden, und dass er als Landschaftsgärtner natürlich gleich gesehen habe, dass dies ein – besonders schöner – aufgepfropfter Baum sei, wird es still in dem kleinen Zimmer.
Plötzlich steht „der Baum“ aus den Geschichten des Herrn Q. mitten im Raum, so fühlt es sich für uns alle an.

Der große, alte Obstbaum habe ihn irgendwie stark angezogen, erzählt Herr V. weiter, und schließlich sei er auf ihn zugegangen, um ihn lange zu umarmen. Ein sehr inniger Moment sei das für ihn gewesen. Und immer noch hat der Erzähler nicht die geringste Ahnung davon, WAS er uns allen damit erzählt. Dann aber erfasst auch ihn der unsagbare Frieden, den alle empfinden, die in diesem Moment zusammen mit Herrn Q. durch ein weit offenes Fenster der Seele auf ihre wahre Heimat schauen.

Für einen Augenblick kollabiert die Zeit und der Raum fällt in sich zusammen: Zwischen damals und jetzt ist alle Vergangenheit vergangen und zwischen Schlesien, Hamburg, dem Schwabenland und Anchorage verhindert keine trennende Distanz, diese Orte als den einen selben zu sehen. Der Fremde ist zum Bruder geworden, der für Herrn Q. und uns alle den Baum der zwei Früchte als den einen Baum der Allverbundenheit umarmt, um unsere uralte Frage nach der Heimat zu beantworten: Hier ist sie und in ihr wohnt unsere gemeinsame Identität. In dieser Erinnerung weiten sich die Wellen des Wunders ins Unendliche aus und verlassen die Formen der Erzählung.

*

Das alles ist für mich tatsächlich so, als sei es gerade geschehen. Herr. Q. und sein Cousin Herr A. haben nicht lange nach diesen Ereignissen nahezu zeitgleich die Welt der Formen und Geschichten verlassen. Herrn Q.s Tag des Abschieds, den ich in unserem Buch „Wohin mit der Angst, Bruder?“ ausführlich beschrieben habe, war ein einziges Zeugnis dafür, dass die Nachricht, wer er sei und wo seine Heimat ist, deutlich zu ihm vorgedrungen war.

Und dass mich die „Welle“ des Wunders dieser Botschaft auch heute noch erreicht, wenn ich mich an die Tage des Besuchs aus Alaska erinnere, als seien sie gegenwärtig jetzt, macht mich unendlich froh. Es ist tatsächlich und wahrhaftig ein herzlicher Gruß des Herrn Q. aus dem „Diesseits“ – an uns alle.

***

Der ich bin

Segne mich
Mit deiner bloßen Anwesenheit;
Heile meine Zweifel
Mit deiner Gewissheit.
Sei du die Antwort
Auf meine Gedanken, die noch fragen;
Umgib mich als athmender Geist
Und schweigendes Wort der Quelle.
Lass mich dich
In dieser Antwort wahrnehmen,
Auch wenn du dich verhältst,
Als kenntest du sie nicht.
Du bist mein Spiegel,
in dem ich mich endlich sehe
Als der,
Der ich bin.

*

Macht nichts!

Eben kommt eine sehr alte Frau am Arm ihrer Tochter ins Café. Tippelnden Schrittes überwindet sie die lange Strecke bis zu dem freien Platz hinten auf der bequemen Bank.
Dort sitzt die erschöpfte Frau jetzt sehr allein, während ihre Tochter den Kaffee besorgt. Ihre Augen blicken leer in den Raum, ihr müdes Gesicht hat allen Ausdruck verloren.

Die Tochter kommt und bringt ihr eine kleine Tassee Kaffee auf einem Tablett, eine weiße Serviette liegt daneben.

Dankbarkeit erhellt das Gesicht der alten Frau. Sie nimmt … nein, nicht die Kaffeetasse, sondern die Serviette in die Hand, schaut sie eine Weile an und legt sie plan neben das Tablett auf den Tisch. Sie streicht das blütenweiße Papier mit einer unglaublich zärtlichen Bewegung glatt und kommt dann auf die Idee, ihm ein wenig Struktur zu geben. Sie zieht die Serviette sacht, aber kräftig genug über die Tischkante, so dass eine akkurate Knickfalte entsteht. Danach legt sie sie vor sich hin und versucht, die Falte wieder herauszustreichen.Es will nicht ganz gelingen, aber das inzwischen ganz und gar lebendige Gesicht der alten Dame bleibt hell und dankbar.
„Das macht nichts“ , sagt es.

Nein, das macht nichts.

 

❤️✌️🤓🌷

Nur als Zweiter angekommen und doch gewonnen!

Ist dir schon mal aufgefallen, dass dein Körper immer hinterhergeht? Kaum zu merken normalerweise, weil wir uns ja so entschlossen mit dem Körper identifiziert haben und mit einem Denken, das ihn im Zentrums unseres Selbstgefühls sieht. Nur deswegen kann ich auf die äußerst schräge Idee kommen, dass „Ich“ durch die Tür gehe oder „Ich“ zum Einkaufen gehe. Lächerlich. „Ich“ geht immer nur hinterher.

Keine ganz zeitgeistkonforme Erkenntnis, wo sich doch grade das bisher noch gültige „Wo ich bin, ist vorn“ vervollkommnet zu „Wo ich bin, ist!“ .

Aber trotzdem wahr. Wenn „ich vorn bin“, dann gehe ich ja schließlich auch hinterher, und zwar meinem Glauben, dass das möglich sei. Zum Wegschmeißen komisch!
In Wirklichkeit gehe ich aber, egal, was ich glaube, immer der GEGENWÄRTIGKEIT hinterher. DIE ist immer schon da, bevor ich mir auch nur vornehme, dorthin zu gehen.

Das ist jetzt gar keine abstrakte Idee, sondern banale Alltagserfahrung. Selbst als Betrachter Anderer kann man das sehen, z.B. bei einem Basketballspieler, wenn er den Ball im Korb wie ablegt, ohne dass der den Metallring berührt – und das Ganze von der Mitellinie des Spielfelds aus. Da musste er reichlich für üben, klar, aber was man in diesem besonderen Moment sieht, ist die Tatsache, dass der Ball „schon drin ist“ , bevor er abgeworfen wurde. Man sagt das dann nur nicht so, da käme man in Erklärungsnöte – aber ist es nicht so? Sichtbar werdende Momente des EINSSEINS.

In „Zen oder die Kunst des Bogenschießens“ sind dann doch Worte gefunden worden für dieses Erleben im Bereich des Sports. Gibt es überall, die 200-kg-Hantel ist auch schon oben, bevor sie hochgestemmt wird und der Degen ist im Ziel, bevor ich mir die Finte ausdenke, den „Gegner“ zu täuschen, um einen Treffer zu erzielen.

Da liegt auch schon der Hase im Pfeffer: Sobald ich „Gegner“ auch nur denke, sehe ich DEN nicht mehr, DEM ich in Wahrheit und Wirklichkeit immer hinterhergehe. Dann hab ich IHN sozusagen verlassen und bin das „Ich“, das sich mit anderen irgendwie in Beziehung setzt im Glauben an die Getrenntheit von ihnen. Ganz normal, könnte man sagen.

„Die Zeit ist irgendwie stehengeblieben“, sagen Manche zu solchen besonderen Erlebnissen eines Einswerdungsgefühls, aus welchem Alltagsbereich auch immer, ob in der Liebe, in einem tief werdenden Kneipengespräch oder auf dem Zahnarztstuhl, als statt der befürchteten Qualen nur eine wohltuende, ganz unmittelbare Verbindung zum Arzt zu spüren war. Oder beim Betrachten einer Blume, einfach beim Spazierengehen – wir kennen das alle, nichts Besonderes, aber schau mal genau hin: War es dann nicht immer so, dass der Körper und all sein Denken hinter der GEGENWÄRTIGKEIT herging? Er war noch da, aber irgendwie in zweiter Reihe, oder?
Wenn die Zeit „stehenbleibt“, bleibt auch der Körper bei ihr als ihr treuester Begleiter, und beide lassen DEN vor, DER immer “ schon da“ ist.

Die LIEBE ist immer schon da, unser EINSSEIN bleibt immer wahr, was auch immer wir davon denken. Manchmal sehen wirs sogar mit Augen, manchmal erleben wirs als Wunder, oft können wir es in uns spüren als den „tiefen Frieden“ und die Stille der wahren Normalität. Immer können wir es einander geben als unser Vertrauen in den Bruder. Und lernen können wir, den Körper samt der ihm gehorchenden Gedanken immer öfter anzusehen als einen der GEGENWÄRTIGKEIT Hinterhergehenden.

 

❤️✌️🤓🌷