Macht Urlaub!

An sich ja nett, diese Aufforderung. Und so haben es wohl auch Viele empfunden, und sollten es auch so empfinden. Hier, in Prora auf Rügen, wo die Nazis dem gestressten Volke einen gigantischen Wohnungskomplex direkt am Meer gebaut haben, damit es sich erholen könne und nicht zu viele Fragen stelle.

Jetzt gibt es hier ein Dokumentationszentrum mit einer Ausstellung, die aus der sicheren Distanz des überwundenen Wahnsinns die Facetten der Manipulation, der Täuschung, Einlullung und des Grauens zeigt.
„Macht Urlaub“ steht über dem Eingang, wobei „Macht“ farbig hervorgehoben wird – aus dem Nazi-Spruch sollte ein entlarvendes Wortspiel werden.

Ungefähr drei Minuten nach Betreten des Gebäudes stelle ich mir die Frage, warum ich wohl hier bin. Ich bin ja jetzt auch schon ein bisschen (!) älter und hab den Kram gefühlt 12 Millionen Mal durchgekaut, mal unabhängig davon, was hängengeblieben ist, da gäbe es sicher noch reichlich Wissenslücken zu füllen.

Trotzdem: Wieso latsche ich hier durch? Das ist ja schließlich MEIN Urlaub, und da soll man sich doch erholen, oder? Von den sicher sehr klugen Analysen der perfiden Beeinflussung des Volkes, die hier im Rahmen des „Kraft durch Freude“- Programms erfolgreich praktiziert wurde, werde ich mich sicher nicht erholen. Ganz normaler Wahnsinn eben, in braunem Gewand, nichts wirklich Besonderes.

Und als ich dann noch in Minute vier in den ehemaligen Disko-Saal gerate, der Hausmeister mir in Minute fünf bis sechszehn den Umstand erklärt, dass es nicht an ihm liege, sondern auf Kompetenzfragen in punkto Elektrik zurückzuführen sei, dass man hier kaum was sieht, weil nur drei von zwanzig möglichen Lampen angeschaltet sind, und ich ferner konstatiere, dass hier eine Wanderausstellung aus Köln zum selben Thema zu sehen ist … beschließe ich, die Abküzung zur Kantine zu nehmen, die es hier dankenswerterweise auch gibt.

Und hier treffe ich auf die nette Dame, die mir einen durchaus trinkbaren bis wohlschmeckenden Kaffee zubereitet und mit der ich in Minute siebzehn bis vierunddreißig wunderbare Worte wechsle. Wir sind blitzschnell von der Plattform runter, auf der man sich darauf einigt, dass „heutzutage kaum noch vorstellbar ist, zu was der Mensch in der Lage ist“. Der aktuelle Krieg hilft da eigentlich, indem man vor sich selbst mit diesem Argument angesichts der Ähnlichkeiten kaum durchkommt. So einzigartig war das nicht.

Dann, Minute neunzehn, sind wir da, wo ich meinen Urlaub endlich fortsetzen kann: Das ist ja alles nur Oberfläche, Formenvarianten. Friede muss man in sich selbst finden, und dann muss man üben, ihn in sich zu halten, nicht wieder aufzugeben.

Ein großes JA ist zwischen uns, Minute neunundzwanzig, als wir es beide als Befreiung empfinden können, die Verantwortung für Krieg oder Frieden in uns selbst zu orten. Denn da ist sie ja schließlich auch, und nirgendwo sonst. Wir sind da beide schlagartig raus aus diesen grauen Mauern, die die Vergangenheit hochhalten, als solle sie eben NICHT vergehen, damit wir weiterhin die Schuldigen außerhalb von uns dingfest machen können.

Das führt nicht zur Erholung, definitiv! Aber Gespräch, Ehrlichkeit, Nähe, das schon. Und so verlasse ich Minute fünfunddreißig das Gebäude in dem schönen Gefühl, eine Dokumentation der unausrottbaren Wahrheit erlebt zu haben. Danke dir, Kantinenfrau, das war ganz groß!

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Klar ist alles klar!

Manchmal denk ich, wir leben in einer Zeit, in der allen alles klar ist – außer mir. Kennst du das Wort „erörtern“ noch? Das gab es mal, aber ich habs in diesem Jahr glaub ich gar nicht mehr gehört. Schade eigentlich, es hat so einen schönen Klang, es hält sich mit uns an dem Ort auf, an dem wir etwas besprechen wollen, was uns noch nicht klar ist, wo das Ergebnis des Gesprächs also noch nicht feststeht. Da ist das Wort „erörtern“ schon mal eine Art Platzhalter und sagt: Findet es heraus, und erlebt die Freude des Miteinander-etwa-Herausfindens.

Dafür scheint es kaum noch einen Bedarf zu geben. Heute weiß man entweder alles oder man schaut es beim allesumfassenden Wissenden nach, dem Netzorakel, dass dir neuerdings sogar schon sagt, was du wissen willst, bevor du selbst auf die Idee kommst. Und natürlich, was du kaufen willst, und welche Bedürfnisse du sonst noch so hast. Wo dein nächster Urlaub hingeht zum Beispiel und was für Medikamente du brachst, damit du mit den Beschwerden, von denen du vielleicht noch nichts spürst, die dich aber auf jeden Fall in den nächsten Tagen anfangen werden zu quälen, einigermaßen fertig wirst.

Also ich will damit sagen, dass es mir so vorkommt, als gebe es heute so eine Tendenz, die Polarität zwischen der Klarheit, die man durch Kreativität, Austausch und vor allem durch Selbst-Denken erzielt und der einer „allumfassenden Weisheit“, die früher mal etwas Absolutem oder Göttlichem unterstellt wurde … dass man diese Polarität irgendwie zusammenbügelt zu dem Gefühl, als teilnahmeberechtigtes Mitglied der Internetgemeinde jederzeit über den Zugang zum Allwissen zu verfügen. Und also nichts mehr „erörtern“ zu müssen, das war gestern.

Die Frage ist, ob das wirklich klug ist. Wenn man das Foto anschaut vom Meer und dem wirklich beeidruckend langen Holzsteg der Seebrücke von Binz auf Rügen, dann ist ja schließlich auch klar, dass der optische Eindruck, der Steg führe bis an den Horizont, eine Täuschung ist. Das hat eine schöne Metaphorik, aber es ist nich „wahr“: Da ist noch eine Menge Wasser zwischen hier und „dort“, und natürlich auch das Wissen, dass dieses „Dort“ nie wirklich greifbar sein wird.

Wir verhalten uns aber so, als sei es das eben doch! Das scheinbar unendliche Differenzierungspotenzial der digitalen Welt hat uns die Greifbarkeit des Unendlichen vorgegaukelt und wir habens (fast) geschluckt. Schau doch mal ein meisterlich virtuell animiertes Video an: Es ist genau dieser „Space“, der ja eigentlich über unseren Horizont hinausgeht, der da weggerechnet ist. Einverstanden, oder fehlt dir nichts, wenn dir eine virtuelle Telefonstimme einen guten Rat gibt?

Jedenfalls gefällt mir das „Erörtern“ nach wie vor. Es akzptiert die Ebene des Allumfassenden als eben NICHT von dieser alles gegeninander abgrenzenden Welt. Und eben durch diese Akzeptanz lässt es eine „Klarheit“ zu, die immer nur zwischen uns aufkommt, als Frucht des Miteinanders, als Wunder des stillen Behütetseins dieser Welt, das von der Liebe kommt, die allein „alles umfassen“ kann. Und ich möchte das eigentlich nicht so gern vergessen, auch wenn es nicht mehr in die Zeit zu passen scheint.

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Stabilität

Ob der Boden mich trägt, das Haus nicht einstürzt, die Sonne auch heute wieder aufgeht, meine Frau mich nicht verlässt und das Finanzamt sich nächstes Jahr wieder an mich erinnert – das ist eine Frage der Stabilität von Seinszusänden, denen ich Verlässlichkeit, Dauerhaftigkeit, eine Neigung zur Wiederholung oder eben Stabilität unterstelle.

Manchmal erweist sich auch etwas als stabil, was ich als äußerst instabil eingeschätzt hätte, wie zum Beispiel diese kunstvoll äqulilibristisch zusammengefügte Säule aus Steinen auf dem Foto. Unglaublich, welche Windböen sie übersteht! Von demjenigen, der die Steine aufeinandergelegt hat, ist weit und breit nichts zu sehen, sie steht also nicht erst seit fünf Minuten hier.

Da bekomm ich noch mal eine ganz andere Ahnung von „Stabilität“: Es ist letztlich ein Mysterium, das die Dinge zusammenhält, etwas lebendig-Feines, was grade wie die „Wirbelsäule“ der „toten“ Steine so gut zu sehen ist. Findest du auch?

Wenn ich jetzt von der Steinsäule weggehe und ganz allgemein meine Wahrnehmung aller Dinge betrachte, die mir so in den Sinn kommen, dann gibt es da auch dies Gefühl einer hauchzarten Mitte in allem, das ich sehe oder sonst mit Sinn und Verstand erfasse. Tatsächlich geht das Gefühl von Stabilität von dieser gefühlten Mitte aus. Dann ist dieses Stabilität also gar nichts, was den Dingen eigen ist, sondern kommt aus meiner Wahrnehmung, meinem eigenen Denken.

„Vertrauen“ kommt mir in den Sinn, Vertrauen ist das, was die eigentliche Stabilität hervorbringt. Kann man das so sagen?
Dann müsste ich auch Stabilität empfinden können, wenn das Haus doch zusammenfällt, wenn die Sonne nicht aufgeht und wenn das Finanzamt mich vergisst. Die Möglichkeit, dass meine Frau mich verlassen könnte, schließe ich hier mal ausdrücklich aus 🙂

Aber ernsthaft: Kann dann die Situation noch für mich „stabil“ bleiben, kann ich weiter vertrauen? Na klar kann ich!
Das ist dann eben die spannende Frage: Worauf genau vertraue ich in Situationen, die eigentlich Vertrauen nicht mehr zu rechtfertigen scheinen?

Was ist der innere Zusammenhalt dieser Steinsäule? Wirklich nur Physik? Oder athmet hier noch das Vertrauen dessen, der diese Steine zusammengelgt hat? Ist Vertrauen eine ganz eigene Kraft? Der eigentliche „Seinszustand“ aller Dinge und das, was uns im Innersten miteinander verbindet? Etwas, das man vielleicht nur bezweifeln, aber nie unwahr machen kann? Ich frag mich das grade. Was meinst du?

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Hinterm Horizont

Wenn ich am Meer stehe, verstehe ich die Seefahrer früherer Zeiten, die es immer wieder hinausgetrieben hat in diese Weite. In die Weite und … über diese feine, sanft gewölbte Linie hinaus, die wir Horizont nennen und die auch heute noch die Frage in mir weckt: Was ist da, was ist dahinter?

Klar: Heute ist es nicht ganz so spannend wie früher, heute bilden wir uns zumindest ein, genau zu wissen, was „dahinter“ ist: eben noch mehr Meer und eine neue Horizontlinie, dann auch mal ein Kontinent und wieder Meer. Und da die Erde ja inzwischen rund sein darf, trifft sich das Ganze wieder treffsicher bei mir, dem Betrachter.

Das egozentrische Bewusstsein hat den Vorteil, dass es die Kräfte freisetzt für pragmatische Dinge, zum Beispiel die Frage, ob ich dem Mitbewerber da vorne noch den Strandkorb abjagen kann. Hat aber auch den Nachteil, dass ich vergesse, zu fragen, was „dahinter“ ist, hinter dieser Welt mit ihren bunten Strandkörben, in denen jeder so schön privat sein kann. Die Antworten sind uns vielleicht einfach zu langweilig geworden.

Ich find sie immer noch spannend, diese Linie – unseren Horizont. Ich spür sie auch in mir, in meinem Denken, das ja auch in alles Grenzen setzt, Linien zieht, und ebenso wie diese sichtbare Linie meine Welt, das Meer meiner Möglichkeiten, vom Himmel der Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit trennt.

Da kann man auch einfach mal hinschauen, staunend, die Sonne des Bewusstseins auf- oder untergehen sehend, träumend vom „Dahinter“ und sehnsüchtig den Schiffen nachblickend, die hinter dem Horizont des Begreiflichen verschwinden.

Manchmal reise ich tatsächlich mit einem dieser Schiffe mit nach hinter den Horizont. Wenn ich es wieder mal über mich bringe, alle Furcht zu vergessen und dieses „Dahinter“ in mir frei, leer zu lassen von den eigenen Vorstellungen – und dabei weiter staunend und erwatungsvoll bleiben kann. Und immer treff ich dich da, in dieser unendlichen Nähe, die „hier“, in meiner selbstbegrenzten Welt, einfach nicht zu erfahren ist.

Ich schätze mal, das ist auch der Grund, warum ich wie die Seefahrer immer wieder „hinaus“will, hinter den Horizont, zu dir.

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Was für ein Segen!

„Was für ein Segen“, sagt man manchmal so dahin, wenn’s gut läuft, wenn etwas, das dringend gebraucht wird, vielleicht überraschenderweise plötzlich im Überfluss da ist, wenn etwas empfangen wird, was man als wohltuend, bereichernd oder heilsam empfindet, und vor allem, wenn sich dabei das Gefühl des Unverdienten, des Geschenks, der Gabe ohne Gegenforderung einstellt.

Was für ein Segen ist schon das Wort selbst: Man kann es förmlich einathmen, weißt du, was ich meine?

Unangenehm ist mir eher die Vorstellung von „segnenden“ Priestern oder sonstigen Segnungsautorisierten. So ein in die Luft geschlagenses Kreuz kann definitiv was sehr Erstickendes, Bedrohliches an sich haben. In ganz wenigen Einzelfällen hab ich allerdings auch darin einen „echten Segen“ erleben können.

Wann wird ein Segen echt? Ich würde sagen, wenn er mein Herz öffnet, wenn er mich erreicht.

Ein Lächeln kann das manchmal, ein gutes Wort, eine Geste, der Anblick eines Baums, durch den dieses Mysterium zu mir kommt, das man versucht, mit „Segen“ in ein Wort zu fassen.

Wie geagt: Im Einzelfall kann auch ein Kreuzzeichen ein Segen sein, oder ein herabfallender Regentropfen, der Blick des Kranführers, kurz bevor er die Abrissbirne in die Hauswand krachen lässt, eine Krankheit, ein Verlust, ein Schmerz.

Seltsam, diese letzten Aussagen oder? Aber wann ist ein Segen echt?
Doch dann, wenn ich ihn nicht ausschließe. Kann nicht alles ein Segen sein, sogar die fällige Steuererklärung?

Wenn ich ihn nicht ausschließe, ist er da. Kann man das so sagen? Oder vielleicht sogar: Wenn ich den Segen gebe, indem ich ihn nicht ausschließe, ist er da, weil ich ihn in den Raum der Wirklichkeit gegeben habe.

Was gebe ich denn anderes als mein Vertrauen, dass alles, wie auch immer es aussieht, letztlich von Liebe geboren, getragen, genährt und erhalten ist.

Darin sich die Hand geben, das ist das Größte, was unter Menschen existiert. Himmel die Berge! Glaub ich das wirklich?

❤️✌️🤓🌷