Manchmal denk ich, wir leben in einer Zeit, in der allen alles klar ist – außer mir. Kennst du das Wort „erörtern“ noch? Das gab es mal, aber ich habs in diesem Jahr glaub ich gar nicht mehr gehört. Schade eigentlich, es hat so einen schönen Klang, es hält sich mit uns an dem Ort auf, an dem wir etwas besprechen wollen, was uns noch nicht klar ist, wo das Ergebnis des Gesprächs also noch nicht feststeht. Da ist das Wort „erörtern“ schon mal eine Art Platzhalter und sagt: Findet es heraus, und erlebt die Freude des Miteinander-etwa-Herausfindens.
Dafür scheint es kaum noch einen Bedarf zu geben. Heute weiß man entweder alles oder man schaut es beim allesumfassenden Wissenden nach, dem Netzorakel, dass dir neuerdings sogar schon sagt, was du wissen willst, bevor du selbst auf die Idee kommst. Und natürlich, was du kaufen willst, und welche Bedürfnisse du sonst noch so hast. Wo dein nächster Urlaub hingeht zum Beispiel und was für Medikamente du brachst, damit du mit den Beschwerden, von denen du vielleicht noch nichts spürst, die dich aber auf jeden Fall in den nächsten Tagen anfangen werden zu quälen, einigermaßen fertig wirst.
Also ich will damit sagen, dass es mir so vorkommt, als gebe es heute so eine Tendenz, die Polarität zwischen der Klarheit, die man durch Kreativität, Austausch und vor allem durch Selbst-Denken erzielt und der einer „allumfassenden Weisheit“, die früher mal etwas Absolutem oder Göttlichem unterstellt wurde … dass man diese Polarität irgendwie zusammenbügelt zu dem Gefühl, als teilnahmeberechtigtes Mitglied der Internetgemeinde jederzeit über den Zugang zum Allwissen zu verfügen. Und also nichts mehr „erörtern“ zu müssen, das war gestern.
Die Frage ist, ob das wirklich klug ist. Wenn man das Foto anschaut vom Meer und dem wirklich beeidruckend langen Holzsteg der Seebrücke von Binz auf Rügen, dann ist ja schließlich auch klar, dass der optische Eindruck, der Steg führe bis an den Horizont, eine Täuschung ist. Das hat eine schöne Metaphorik, aber es ist nich „wahr“: Da ist noch eine Menge Wasser zwischen hier und „dort“, und natürlich auch das Wissen, dass dieses „Dort“ nie wirklich greifbar sein wird.
Wir verhalten uns aber so, als sei es das eben doch! Das scheinbar unendliche Differenzierungspotenzial der digitalen Welt hat uns die Greifbarkeit des Unendlichen vorgegaukelt und wir habens (fast) geschluckt. Schau doch mal ein meisterlich virtuell animiertes Video an: Es ist genau dieser „Space“, der ja eigentlich über unseren Horizont hinausgeht, der da weggerechnet ist. Einverstanden, oder fehlt dir nichts, wenn dir eine virtuelle Telefonstimme einen guten Rat gibt?
Jedenfalls gefällt mir das „Erörtern“ nach wie vor. Es akzptiert die Ebene des Allumfassenden als eben NICHT von dieser alles gegeninander abgrenzenden Welt. Und eben durch diese Akzeptanz lässt es eine „Klarheit“ zu, die immer nur zwischen uns aufkommt, als Frucht des Miteinanders, als Wunder des stillen Behütetseins dieser Welt, das von der Liebe kommt, die allein „alles umfassen“ kann. Und ich möchte das eigentlich nicht so gern vergessen, auch wenn es nicht mehr in die Zeit zu passen scheint.
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