„Ich bin Nihilist!“
Er sagte es mit fester Stimme, und sein Stolz war unüberhörbar, mit dieser Selbsteinschätzung Vernunft und Realität das Wort geredet zu haben, genauso unüberhörbar allerdings wie sein Zweifel an dieser radikalsten aller Absagen an Glaubensbekenntnisse jedweder Art: „Ich bin Nihilist!“
Wir waren uns gestern in einem kleinen Café in Kühlungsborn begegnet. Es war sehr kalt und windig gewesen an diesem Tag und hatte heftig geschneit, so dass sich die wenigen Touristen, die um diese Jahreszeit in den Ort gekommen waren, bevorzugt in den Cafés und Restaurants aufgehalten hatten.
Ich hatte mich an seinen Tisch, an den einzigen noch freien Platz im gesamten Café gesetzt, die winterliche Ostsee im Blick, und so waren wir ins Gespräch gekommen.
Matthis kam wie ich aus Hamburg, aus einem unbestimmten Gefühl der Sympathie heraus hatten wir uns gleich mit dem „Du“ angeredet. Das Gespräch war, nachdem es sich aus den üblichen Wetterbetrachtungen erlöst hatte, eine ganze Weile um unsere Vorliebe für diesen von Hamburg aus leicht erreichbaren Ostseeort gekreist, um die Kraft und die Ruhe, die man hier, umgeben von frei atmender Natur, empfinden konnte, als er unvermittelt die Frage gestellt hatte, ob ich Christ sei.
Ich hatte nicht weiter nachgefragt, wie er zu dieser Vermutung gekommen sei, sie mit einem einfachen ‚ja‘ bestätigt und war froh gewesen, dass er sich mit dieser schlichten Antwort zufriedengegeben zu haben schien.
Jetzt, auf unserem Morgenspaziergang, zu dem wir uns gestern noch verabredet hatten, zeigte sich also, dass ich mich mit dieser Einschätzung geirrt hatte.
„Nihilist, ein großes Wort! „, erwiderte ich, in der Hoffnung, der Kelch einer weltanschaulichen Diskussion könne doch noch an mir vorübergehen. Gespräche dieser Art hatte ich selten als fruchtbar erlebt, allzu oft verirrte man sich dabei in einem Labyrinth aus stillschweigenden, unhinterfragten Voraussetzungen und verfing sich in der Versuchung, mit seinen Definitionen eigene Vorstellungen als Wahrheiten fixieren zu wollen, anstatt sich für etwas zu öffnen, auf das zum Glück kein Eigentumsrecht geltend gemacht werden kann: für die Wahrheit. Was ist ein „Christ“, was ein „Nihilist“, was heißt „glauben“?
Jedenfalls hatte es mir bisher immer als eine seltene Sternstunde gegolten, wenn ein solches Gespräch gelungen war und alle Beteiligten es als Insoiration erlebt hatten, es war mir dann immer so vorgekommen, als habe in diesen glücklichen Momenten das Leben selbst die eigentlichen Antworten gegeben.
Meine Hoffnungen, doch noch zu einem beschaulichen Spaziergang zu kommen, musste ich endgültig aufgeben, als Matthis, als sei er gut vorbereitet, meinen Einwand sofort mit einem Konter beantwortete:
Mit dem feinen Lächeln eines SChachspielers, der weiß, dass er einen genialen Zug macht, sagte er: Na schön,dann bin ich ein Agnostiker, ja, das ist gut: ich bin ein Agnostiker!“
Agnostizismus – viel hätte ich aus dem Stegreif nicht mehr über diese philosophische Richtung sagen können, meinte jedoch zu erinnern, dass sie vor allem theologische Fragen zwar stellte, sie aber gleichzeitig für prinzipiell unklärbar hielt.
‚Das ist ja pfiffig!‘, dachte ich: ‚aus dem absoluten Nichts des Nihilismus wird plötzlich ein Nichts, das man diskutieren kann, und erst nach genauer Prüfung sämtlicher theoretischer Möglichkeiten, irgend etwas zu erkennen, kommt man zu der Erkenntnis, dass man nichts erkennt, und schließt daraus, dass nichts zu erkennen ist! Jedenfalls keine Zeugen oder gar Beweise einer spirituellen Wahrheit.‘ Da schien mir Sokrates‘ „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ doch entschieden erwartungsvoller auf den Horizont des Erkennbaren zu schauen!
Mit der diskreten Umetikettierung seiner philosophischen Einstellung hatte Matthis allerdings – und wer weiß, vielleicht war das seine Absicht und damit wirklich ein kluger Schachzug von ihm – meine Neugier und Denklust angestachelt. Umso größer war mein Erstaunen, als ich – gerade ausholend zu einer entsprechenden Antwort – bemerkte, dass nun er es war, der an einer Fortsetzung des Gesprächs das Interesse verloren zu haben schien.
Er war stehengeblieben und hob mit großer Geste die Arme, atmete tief die kalte Meeresluft ein und begann, von den Schönheiten der Natur zu schwärmen.
– Wie soll ich es sagen? Von diesem Moment an empfand ich eine Art augenzwinkerndes Einverständnis zwischen uns, … etwas Drittem Raum zu geben.
Wir verließen die befestigte Strandpromenade und gingen hinunter auf den von Schnee überfirnissten Sandstrand, angezogen vom Brandungsrauschen, das in unzähligen sich brechender Wellen von deren Herkunft aus der Urkraft des Meeres sprach.
Eine Weile noch sahen wir noch dem Tanz der Wellen, dem Formenspiel der Wolken zu, fuhren mit unseren Blicken die fein gezogene, leicht gekrümmte Linie nach, an der sich Himmel und Meer zu treffen und zu trennen schienen.
Schließlich gingen wir weiter, und wunderbarerweise empfand ich, dass sich unser Gespräch, das gestern begonnen hatte und bisher im Kern aus nicht viel mehr als drei Worten bestand, in unserem Schweigen fortsetzte, sich ausweitete und dabei an Tiefe gewann; eine Art Nähe entstand, eine Unmittelbarkeit.
Irgendwann machte mich Matthis mit einer kleinen Kopfbewegung auf etwas aufmerksam: Etwa zwanzig Meter vor uns, dort, wo der Sandstrand in kleine, grasbewachsene Dünen überging, kauerte ein Mann in höchst eigenartiger Stellung am Boden. Den Kopf zwischen die Knie geklemmt, die Hände hinterm Nacken verschränkt, dadurch das Gesicht nach unten gerichtet, machte er den Eindruck, als wolle er sich in eine möglichst kleine Form zusammenfalten.
„Lass‘ uns lieber hingehen!“, schlug Matthis vor, „vielleicht braucht er Hilfe.“
Der Mann regte sich zunächst nicht, als wir durchaus hörbar auf ihn zugingen. Erst, als Matthis ihn ansprach, löste er seine Hände aus ihrer Verschränkung und hob seinen Kopf.
„Geht es Ihnen gut? Können wir Ihnen helfen?“, fragte Matthis und erschrak im ersten Moment genau wie ich über das Antlitz, in das wir blickten: Die Gesichtszüge des vielleicht fünfunddreißigjährigen Mannes waren mehr als unruhig, kamen sich sozusagen selbst in die Quere, sein Blick schien zu flackern wie ein Kerzenlicht im Wind und sein Mund stand in vollkommener Ausdruckslosigkeit offen, als habe er noch nie ein Wort gesprochen.
Als er dann aber doch antwortete, klang seine Stimme im Kontrast zu dem Anblick, den er bot, ganz arglos, in einem fast zutraulichen Ton sagte er:
„Mir kann man nicht helfen. Die Russen hätten meinen Vater nicht erschießen sollen, er wollte ihnen nichts Böses!“
Bevor noch einer von uns antworten konnte, fuhr er fort:
„Mein Vater hat sich aufgehängt!“
Ein Frösteln ging durch mich hindurch bei dieser den Verstand überfordernden Rede, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch Matthis unwillkürlich einen Schritt zurückwich.
Der Mann saß immer noch in der Hocke, die Ellbogen jetzt auf den Knien abgestützt und die Arme nach vorne weggestreckt, so dass die Handflächen nach oben wiesen. Geben- und Habenwollen schienen sich gleichermaßen auszudrücken in dieser Geste, ununterscheidbar.
Als habe er Mitleid mit uns, gab er eine Art Erklärung ab:
„Ich bin geisteskrank, sie haben mich falsch behandelt, ich werde Anzeige erstatten!“
Immer noch sprach er in diesem harmlosen, kindlich-vertrauensvollen Ton. Gleichzeitig aber umgab ihn eine Art Vakuum, ein Niemandsland, und mein Frösteln verdichtete sich zu einer leisen Angst, in diese Aura der Ungewissheit weiter hineingezogen zu werden: da war kein Boden, das war der schiere Abgrund!
Auch bei Matthis sah und spürte ich das Unbehagen vor dieser brückenlosen Schlucht, die uns von diesem vor uns kauernden Menschen trennte.
„Sie haben über Gott gesprochen!“, sagte er jetzt ganz unvermittelt.
„In der Tat, also gewissermaßen!“ antwortete Matthis sichtlich erleichtert über diese zwar überraschende, aber immerhin konkrete Feststellung.
„Fragen Sie sich, woher ich das weiß?“, kam es jetzt von unten herauf, und ich antwortete spontan und aufrichtig: „Ja, das frage ich mich tatsächlich!“
Jetzt aber schien er wie in sich zurückzusinken, sagte nichts mehr, schaute mich zwar irgendwie an, doch stieren Blickes, der mitten durch mich hindurchzugehen schien, ohne noch etwas wahrzunehmen … aber nein, ich täuschte mich, nicht „stier“ war sein Blick, er starrte nicht, nein, jetzt sah ich es anders: es war vielmehr, als ob er wartete, wartete wie seit Ewigkeiten, wartete auf Antwort, Antwort auf sich. Es war wie ein uraltes Horchen, das ich – gewissermaßen sah …
… und da war keine Schlucht mehr, kein Abgrund zwischen uns und diesem Menschen: ich erkannte dies Warten, dieses Horchen als das meine, und ich hatte vor mir keinen Geisteskranken mehr, sondern meinen Bruder, den Bruder, wie er jetzt aufstand, um mir die Hand zu geben:
„Ich muss gehen. Auf Wiedersehen. Ich muss Anzeige erstatten!“
Für einen Moment blickte er mir in die Augen, das Flackern war verschwunden, so, als sei die Kerze erloschen – und gerade dadurch sei es heller geworden!
Ganz behutsam nahm er meine Hand in die seine, drückte sie leicht, wie man es tut, wenn man sich über etwas geeinigt hat, und reichte dann auch Matthis die Hand.
„Alles Gute und auf Wiedersehen!“, sagte Matthis, und ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes wie eine ferne Erinnerung, bevor er sich umdrehte und schwerfälligen Schrittes davonging.
Auf dem Weg zurück sprachen Matthis und ich kein weiteres Wort miteinander. Erst als wir uns trennten, verabredeten wir uns für den nächsten Morgen zu einem gemeinsamen Spaziergang.
( 16.03.2013 )