Während in dem kleinen Dorf S. am Fuße der Alpen sich die erste Silvesterrakete ihren Weg durch die enge Zeitspalte zwischen vierundzwanzig Uhr des vergehenden und null Uhr des herannahenden Jahres nach oben in den nachtschwarz alles überwölbenden Himmel bahnt, um dort, sozusagen pünktlich, zu zerbersten und in Tausende farbiger Lichterfunken zu zersprühen, die in vorprogrammierter Choreografie zur Erde zurückregnen werden, während also die Zeit den Sprung macht von der Vergangenheit in die Zukunft und überall in den Häusern die Sektkorken aus den Flaschen knallen, um ebenso pünktlich den Weg freizugeben für den prickelnden Neubeginn,
kracht der 47-jährige Klaus I. auf der Landstraße zwischen L. und V. im Ärger über seine Verspätung, die ihn, wie er fürchtet, um das Vergnügen bringen werde, mit seinen Freunden rechtzeitig auf das Neue Jahr anstoßen zu können, mit seinem nagelneuen Ford Focus frontal in eine Rotbuche, die seit zweihundertfünfzig Jahren Sorge und Eile nicht kennt,
welche den Oberarzt der gynäkologischen Abteilung des Kreiskrankenhauses E. in S. nun doch zu der Entscheidung treiben, die Geburt der kleinen Sabine künstlich zu befördern, wodurch die Lokalzeitung in ihrer nächsten Ausgabe den ersten Geburtsschrei des Jahres als nur Sekunden vom Nullpunkt abweichend wird feiern können,
eine gute Nachricht, welche von Kerstin T., der in der Landmaschinen vertreibenden Firma E. in R. angestellten Noch-Sekretärin, allerdings nur mit melancholischem Desinteresse überflogen werden wird, da sie auf der seit etwa zwei Stunden rauschenden und soeben in die Stunde Null einmündenden Betriebsfeier ihrem Chef als Reaktion auf dessen schwächelndes Distanzgefühl gerade eine schallende Ohrfeige verpasst, was das Ende ihrer innerbetrieblichen Karriere und den Beginn der Aufstiegsmöglichkeiten einer zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten neuen Sekretärin markiert,
ein Silvesterkracher der besonderen Art, den Helga F. aus E. auch dann nicht hören würde, wenn sie direkt neben der Schallquelle stünde, da sie – in ihrer nachträglichen Einschätzung peinlicherweise – vergessen hat, ihre Ohrstöpsel herauszunehmen, als sie nach dem für sie unhörbaren Klingeln beherzt, aber viel zu laut, bei ihrem Hausgenossen Manfred I., mit dem sie nicht nur eine zwanzigjährige Nachbarschaft verbindet, sondern auch die bedauerliche Tatsache, fast ebensolange verwitwet zu sein, anklopft, um endlich einmal mit ihm auf das Neue Jahr anzustoßen, noch nicht ahnend, dass man künftig nur noch eine gemeinsame Wohnung benötigen werde,
eine Fügung des Schicksals, welches Hugo E. aus R. in eine völlig andere Richtung weist, der sich just darüber klar wird, dass der laute Knall in seinen Ohren nicht allein von dem Böller herrührt, den der Junge auf der anderen Straßenseite gezündet hat, sondern – und aus seiner Sicht vor allem – von der Tür, die in seinem Rücken mit solcher Heftigkeit zugeschlagen wird, dass keinerlei Zweifel an der Endgültigkeit des ihm den Rückweg verwehrenden Entschlusses bestehen kann.
Während die Welt also einen Schritt weitergeht und die alten Schalen sprengend überall das Ritual des Neuanfangs gefeiert wird, der lautstark und funkensprühend den vermeintlichen Graben zwischen morgen und gestern überspringt, haben sich die Geschwister Anna und Johannes im Garten des elterlichen Hauses endlich gefunden. Sie stehen einander gegenüber, inmitten krachender Böller, zischender Raketen und klingender Gläser, fassen sich an den Händen und sehen sich in die Augen, sehen den Riss, durch den am Abend auf der Reise hierher – Anna sitzt im Zug, Johannes in seinem Auto –, die Nachricht ihres Bruders Christian, dass er nach Lage der Dinge nicht mehr lange zu leben haben werde und auch nicht zu der gemeinsam geplanten Feier kommen könne, in ihre Wirklichkeit einbricht, sehen diesen Riss im Auge des Anderen weit geworden wie ein offen stehendes Fenster, durch das die Gegenwart ihres Bruders sie schließlich findet …
… und eine Stille, frei von jedem Schrecken, nimmt sie eine ganze Ewigkeit lang zärtlich in den Arm.
( 01.01.2013 )