Ganz leicht …

… legte er seine Stirn an die große Fensterscheibe, während er in den Garten hinausschaute, der von einer hauchdünnen Schneeschicht wie verschleiert schien. Eine wunderbare Kühle strömte in ihn ein, beruhigte seine Gedanken, die sich heißgelaufen hatten in den letzten zehn Tagen, Tagen, in denen er allein gewesen war in dem großen Haus und in denen er es einfach nicht geschafft hatte, zu Rande zu kommen mit einem Gedanken, der sich ihm aufgedrängt hatte, kurz, nachdem Paula, seine Frau, zu ihrer erkrankten Mutter abgereist war, welche sie um Hilfe und Beistand gebeten hatte.
Er hatte sich irgendwie gefreut auf diese Zeit mit sich allein, und sich vorgenommen, sie zu nutzen,  seine Gedanken zu ordnen, zu analysieren, warum ein friedliches Miteinander mit Paula immer schwieriger geworden war in den letzten Jahren, war dabei voller Zuversicht gewesen, zu handfesten Ergebnissen zu kommen, und hatte sich zugetraut, eine neue Basis erarbeiten zu können für ihrer beider Zukunft.
Aber dann war er am Morgen nach Paulas Abreise aus einem üblen Traum, dessen Inhalt nach dem Erwachen sofort verschwommen war, hochgeschreckt und hatte nur noch diesen Satz vor sich gesehen wie eine Mauer, die ihn undurchdringlich und dennoch keinen Zweifel daran erlaubend, dass die einzig mögliche Bewegungsrichtung durch sie hindurchgehe, angeschwiegen hatte:
“ Unsere Ehe hat sich zersetzt!“
„Zersetzt“! Was für ein wüstes, seelenloses Wort für den doch schon über dreißig Jahre lang währenden gemeinsamen Weg mit Paula! Er war schockiert gewesen über die Zumutung, einen solchen Ausdruck gewählt haben zu sollen. „Zersetzt!“.
Aber kein Versuch, den gnadenlosen Satz als Traumgespinst abzutun und ihn aus seinem Denken zu verscheuchen, hatte geholfen. „Du hast es gesagt“, hatte er sich immer wieder selbst erinnert, „Du hast es gesagt!“
Und dann hatte ein zehntägiges Martyrium begonnen, das all seine Kräfte herausgefordert hatte bei seinem Versuch, dieses vernichtende Urteil zu verstehen, zu relativieren und wenn möglich aus der Welt zu schaffen.
Er hatte zunächst alles Negative seiner Ehe aufgelistet: die Distanz, die sie plötzlich gespürt hatten, als die Kinder aus dem Haus waren, das Auseinanderdriften ihrer Interessen, die immer kürzer werdenden Zeiten, in denen sie miteinander sprachen, das zunehmend Mechanische in ihren Zärtlichkeiten, die vergeblichen Versuche, mit professioneller Hilfe Lösungen zu finden, und vor allem die gegenseitigen Vorwürfe und die Ermüdung, die beide spürten, ihr erlahmender Wille, einen Ausweg zu finden.
Dann hatte er versucht, das Negative dem Positiven entgegenzuhalten, „das Glas ist entweder halb leer oder halb voll!“, hatte er sich Mut gemacht und war doch immer wieder wie eingebrochen in die Erkenntnis, dass alles, was er an Positivem hätte sagen können, in der Negativliste schon als mangelhaft aufgeführt war.
Gestern Abend dann hatte er sich schließlich eingestehen müssen, dass dieser Satz, der an den Wächtern seines Bewusstseins vorbei in seine Wirklichkeit eingedrungen war, vielleicht zum Ehrlichsten gehörte, was er  jemals gewagt hatte zu denken: „Unsere Ehe hat sich zersetzt!“

Wie eine Ruine hatte das gemeinsame Haus jetzt vor seinem inneren Auge gestanden, an allen Ecken und Kanten bröckelnd, das Dach eingestürzt, die Fenster ohne Scheiben, die Bewohner frierend in ihrer Obdachlosigkeit.
Und voller Traurigkeit hatte er sich schlafen gelegt an diesem letzten Abend vor Paulas Rückkehr: das also war das Ergebnis seines Vorhabens, eine neue Basis präsentieren zu wollen und eine Umkehr zu ermöglichen für ihr Zusammenleben!
Im Traum dieser Nacht hatte er die Ruine noch einmal vor sich gesehen: Fenster- und Türöffnungen waren jetzt zugemauert, und alles zerfiel; er hatte den Weg nicht finden können an einer Wahrheit vorbei, die ihn förmlich erschlagen hatte.

Wie sollte er heute Paula begegnen …
Immer noch kühlte die winterkalte Fensterscheibe seine Stirn, und matt blickte er hinaus in den Garten. Seit Weihnachten hatte es ununterbrochen geregnet, erst heute Morgen war ein wenig Schnee gefallen, der die Dunkelheit unter dem wolkenverhangenen Himmel ein wenig aufhellte. Ein winziger Vogel  kam vom Nachbargarten herübergeflogen und landete auf der Rückenlehne eines der beiden Gartenstühle, die sie im Winter immer draußen stehen ließen, ein kleiner Gartentisch gehörte dazu … alles aus Teakholz, das sah, so hatten Paula und er es immer empfunden, heimelig und einladend aus auch in der kalten Jahreszeit. Nur einen Moment verweilte das Vögelchen, dann flog es wieder davon. Wie gebannt aber blieb sien Blick an der Stelle haften, wo das Holz der Stuhllehne für einen kurzen Augenblick die Ehre gehabt hatte, als fester Boden für diese Körper gewordene Leichtigkeit dienen zu dürfen – denn so kam es ihm vor: wie ein Geschenk, das sich Vogel und Lehne bei dieser leisen Begegnung gemacht hatten.
Er öffnete die Tür zum Garten und ging hinaus, wie magisch angezogen von diesem besonderen Ort, legte sogar kurz seine Hand auf eben jene Stelle der Lehne, ganz behutsam, wie um etwas Lebendiges zu fühlen, und setzte sich schließlich trotz der bitteren Kälte, die er kaum spürte, in den Stuhl.
Aus einem Moment der Ruhe heraus nahmen seine Gedanken eine neue Richtung, als wenn sie sich aus einer anderen, ihm gleichwohl sehr vertrauten Quelle speisten, und er konnte kaum noch verstehen, wie es hatte sein können, dass er sich einem Wort gebeugt hatte, das eine Art Todesurteil über die Gemeinschaft mit Paula war.
Wie die drohenden Schlechtwetterwolken über ihm, so kamen ihm jetzt die Gedanken der letzten Tage vor: düster, beängstigend, wie aufgeladen von einem diffusen, bodenlosen Mangelgefühl, durch das sich ein feines Netz gegenseitiger Vorwürfe zog wie ein mathematisches System, dessen Grundvoraussetzung die wenn auch nur um ein Geringes größere Schuld des Anderen war. Auch seine Negativ – Positiv – Liste hatte letztlich dieser Formel gehorcht.
Jetzt konnte er die Kraft erkennen, die ihr gemeinsames Haus zersetzt hatte in eine Ruine ohne Hoffnung: diese Kraft war der Vorwurf der Schuld, der klammheimlich das Fundament unterwandert hatte.

Was hatte sie denn zusammengeführt, damals? Nein, das war nicht nur Verliebtheit, das war auch ein Gefühl der Zugehörigkeit gewesen, dass sie einander anvertraut seien, darüber hatten sie anfangs auch miteinander gesprochen. Aber war das wirklich ausgelöscht oder nur von dieser Unheil androhenden Wolke verhüllt?
Wie oft hatte er früher dies Gefühl der Ehre empfunden, gemeint zu sein von ihr, beim Namen genannt, erkannt zu sein in seinem Innersten, ganz gleich in welcher Situation, durch Paulas bloße Anwesenheit, so, wie er es eben in der Begegnung zwischen einem kleinen Vogel und, ja: einem Stück Holz … erinnert hatte.
Schützend hielt er eine Hand vor seine Augen, für einen Moment hatte ihn ein Lichtreflex geblendet, der von einem Fenster des gegenüberliegenden Nachbarhauses her gekommen war. Tatsächlich hatte sich eine breite Wolkenlücke aufgetan, und zum ersten Mal seit Wochen konnte er wieder ein Stück blauen Himmels sehen. Dichte Wolkengebilde umgaben diese offene Weite und sprachen von der Quelle des Lichts, das sich ihm – von den Wolkenrändern eingefangen – wie in tausend Formen ausgegossen zeigte, als sei die sich noch im Verborgenen haltende Sonne in Stücke zersprungen. „Zersetzt“, fast lächelte ihn jetzt dies Wort, das ihn so sehr niedergedrückt hatte, an: er wäre ja auch niemals auf den Gedanken gekommen, die Einheit und den Zusammenhalt der alles erhellenden und nährenden Sonne zu bezweifeln, nur weil ihr ein Zerrspiegel vorgehalten wurde!
Und Freude kam in ihm auf und überstieg seine Schmerzen.

 

Sie war etwas früher als angekündigt nach Hause gekommen, leise hatte sie die Haustür aufgeschlossen, um Manfred zu überraschen. In der Zeit, die sie bei ihrer kranken Mutter verbracht hatte, war viel in ihr geschehen. Als sich der Zustand der Mutter von Tag zu Tag verbessert und sich gezeigt hatte, dass sie die schwere Gesundheitskrise überstehen würde, hatte sich in Paula wie aus dem Nichts ein Gefühl ausgebreitet, das sie in dieser Intensität und Tiefe lange nicht mehr – oder vielleicht noch nie – empfunden hatte: Dankbarkeit. Es war für beide, für Mutter und Tochter, eine gute, eine heilsame Zeit gewesen.
Und dann, als sie sich vorhin dem Haus genähert hatte, in dem sie mit Manfred, ihrem Mann, wohnte, mit dem das Zusammenleben so mühsam gewesen war in den letzten Jahren, da war dies Gefühl – nein, das war nicht das richtige Wort – diese Erfülltheit war wieder da gewesen und hatte sich ihr als Vorfreude auf die Wiederbegegnung gezeigt.
Sie hatte schon in allen Zimmern des Hauses nach ihm gesucht und erst, als sie jetzt ein zweites Mal ins Wohnzimmer ging, sah sie ihn viel zu leicht bekleidet draußen in einem der Gartenstühle sitzen.
Ein Lichtreflex, der von einem Fenster des gegenüberliegenden Nachbarhauses her kam, blendete sie, so dass sie ein paar Schritte weiter in den Raum hineingehen musste, um wieder in den Garten hinaussehen zu können. Milde lächelte sie über den kleinen Abdruck auf der Fensterscheibe hinweg, den – „typisch“, dachte sie auch jetzt in einer alten Gewohnheit – Manfreds Stirn hinterlassen hatte.
Und dann sah sie seine Freude, sah seine Träne, ging hinaus, ging zu ihm hin, vergaß alles, was sie hätte sagen wollen und legte einfach nur leise ihre Hand auf seine Schulter, ganz leicht …

( 26.01.2013 )

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