In Allem Ein Gedanke

Wenn ich versuche, mich in dem Spiegel anzuschauen, der mir in den letzten zehn Minuten vorgehalten worden ist: das vollkommen indifferente Gesicht der Bäckersfrau, die mich eigentlich gut kennt und die ich auch nett begrüßt habe, der mürrische Blick des Kunden, der hinter mir wartet und dem missfällt, dass ich ein wenig Zeit brauche, um das Wechselgeld wieder einzusortieren, die aufmunternde Geste des kleinen Jungen, der mir unter Einsatz all seiner Körperkräfte die Tür aufhält und dafür bewundert werden will, das Lächeln des jungen Mannes, der wegen einer Gehbehinderung nur sehr langsam über die Straße gehen kann und der wohl bemerkt, dass ich aus einer Art Solidarität auch etwas langsamer gehe, die wütende Fratze des Autofahrers, der uns beide von der Straße hupt, der Kinderwagen mit angehängter Mutter, der derart raumgreifend über den Gehweg chauffiert, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als in einen Hauseingang auszuweichen, die Nachbarsfrau, die sich tatsächlich zu freuen scheint, mich zu sehen, der Brief im Briefkasten, dessen vertraute Behördenfarbe vermuten lässt, dass man wieder mal ein Foto von mir gemacht hat, wie ich mich gerade gegen die Straßenverkehrsordnung versündige – das sind jetzt wirklich nicht mehr als zehn Minuten  – also dann könnte ich doch auf den Gedanken kommen, mir noch vor dem Frühstück meinen Personalausweis herauszuholen und mich daran zu freuen, dass mir wenigstens von Amts wegen eine klare Identität bescheinigt wird.

Aber wer sagt eigentlich, dass der Spiegel, den die Welt mir vorhält, der einzige ist, in dem ich mich erkennen kann?

Meinen Namen gaben mir die Eltern, aber mein Gesicht, das, was ich bin? Das gibt mir Der, an Den ich glaube, auch wenn ich in eine Fratze des Zorns schaue, das gibt mir der Eine Gedanke, den ich allein nicht denken kann, weil er der Gedanke der Ungetrenntheit Ist.

Auch hinter der Maske Deines Zorns, hinter dem Bollwerk Deines Kinderwagens und jenseits Deiner Indifferenz und Deiner Ungeduld ist eine Tür, die wir uns aufhalten können für diesen Einen Gedanken, in Dem wir unser wahres Gesicht erkennen.

( 03.12.2013 )

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