Also komm‘, über Gott haben wir uns doch schon Gedanken gemacht, da waren wir noch keine fünf Sekunden von der Nabelschnur ab, oder hast du etwa nicht geschrien? Da war’s doch schon vorbei mit der Geborgenheit, sie haben einen isoliert vom Großen-Ganzen, hochgehoben, rumgereicht, sogar geschlagen haben sie den Neuankömmling, damit der gleich weiß, dass er ab jetzt selbst für die Aufrechterhaltung lebenswichtiger Körperfunktionen zuständig ist: Einatmen – Ausatmen – Einatmen – Ausatmen den ganzen Tag nonstopp. Das war vorher besser gewesen, definitiv! Doch, unser Gebrüll hat schon geholfen: sie haben sich bemüht, haben uns in warme Decken gewickelt, dabei ganz vertrauenerweckende Blubbergeräusche abgesondert und man hat sich an der Milchbar vom Großen-Ganzen bedienen können. Aber komisch war schon: vorher hatte man ganz und selbstverständlich dazugehört, jetzt war man zwar gern gesehen, aber doch nur noch so etwas wie ein Gast. Na ja.
Dann haben Sie einem so Mützchen übergestülpt, Hemdchen, Höschen und Söckchen und haben immer so getan, als seien das großartige Geschenke, die einen aufwerteten und über die wir uns freuen müssten. Dabei haben wir eigentlich immer gedacht: nackt war besser, ihr Granaten! Gut, wir hatten noch keine Wörter damals, stimmt, aber wir haben doch schon nachgedacht, haben den großen Unterschied zwischen all dem Neuen und dem fraglosen, unendlichen Aufgehobensein bemerkt, dem sie uns da gerade entrissen hatten. Und mit dem Denken ist es dann wie mit dem Atmen gewesen: nicht mehr zu stoppen!
Ja, und dann sind allmählich die Wörter zu uns gekommen, wir haben schnell herausgefunden, dass unser Denken zusammen mit unserem Geschrei, wenn wir es ganz fein dosiert haben, mit dem Mund irgendwie in kleine Förmchen zu bringen war, so was wie Essen verkehrt herum. Interessant war ja dabei vor allem, dass wir damit das Umunsherum beeinflussen konnten. Zweifaches Aufklappen des Mundes mit vorsichtigem Luftausstoß hat beispielsweise dazu geführt, dass das Große-Ganze sehr, sehr freundlich geworden ist und einem dann unaufhörlich dieselben Denkförmchen ins Gesicht geblasen hat: „Ma-ma, Ma-ma, Ma-ma“.
Das hat Spaß gemacht, muss man schon sagen! Zuerst ist dann das Wörterformen noch eine Art freie Kunst gewesen, alles, was einem so eingefallen ist, hat große Freude ausgelöst ringsumher. Später dann allerdings hat es richtige und falsche Wörter gegeben, manche haben Freude ausgelöst und manche heftigen Grimm. Man hat uns den Apfel vom Baum des Unterschiedes zwischen Gut und Böse eigentlich ziemlich brutal zwischen die Kiefer gerammt. Sie sind aber schlau gewesen und haben damit gewartet, bis wir genug Zähnchen hatten! Verführt von den neuen Möglichkeiten haben wir tapfer zugebissen und ja: es hat geschmeckt, auch wenn eine bittere Note dabei gewesen ist: um zum Guten zu kommen, hat man ständig das Schlechte aussondern müssen, und so was hatte es zuvor genau wie Söckchen und Mützchen gar nicht gegeben! Ganz schnell haben wir dann aber die unendlichen Möglichkeiten entdeckt, die das Wörtersprechen so mit sich gebracht hat: man hat die Umgebung regelrecht damit aufscheuchen können, die einzelnen Teile, in die sich das Große-Ganze inzwischen längst zerlegt hatte, herrlich gegeneinander ausspielen, Wohlwollen verteilen und wieder entziehen und köstlich: Dinge behaupten können, die gar nicht gestimmt haben!
Und darüber haben wir nach und nach vergessen, dass wir einmal über Gott nachgedacht hatten, damals, als es noch kein Wort für Ihn gegeben hatte, als der Boden unseres Denkens noch das Ewig-Ganze und Unzerstörliche gewesen war, auf das sich alle Unterschiede, die wir bemerkten, gegründet hatten.
Etwas anderes hat sozusagen dieses Thema ersetzt, und dafür hat es ja jetzt auch ein Wort gegeben: „Liebe“. Liebe galt als Haupthandelsware, das haben wir schnell bemerkt, mit der Liebe hat man hier die Weichen gestellt! Es gab die der Liebe Würdigen und die ihrer Unwürdigen, es gab Freunde und Feinde, Familie und die Anderen. Mit der Liebe sind die entscheidenden Trennlinien gezogen worden, an denen man sich orientiert hat. Später erst haben wir angefangen, an sehr viel profanere Mittel zur Orientierung zu glauben, da war schon Dramatisches in uns geschehen: wir hatten erleben müssen, dass die Liebe nicht wirklich zuverlässig war, sie konnte zu Bruch gehen. Wir hatten erlebt, dass man verlassen, betrogen, verstoßen, verschmäht, dass unsere Liebe ignoriert werden konnte, dass andere uns gegen unseren Wunsch und Willen vorgezogen werden konnten, und wir hatten erlebt, dass der Mensch, den wir liebten und der uns liebte, vom Schicksal von unserer Seite gerissen werden konnte, und es wurde immer klarer, dass es mit der Liebe war wie mit dem Atmen und dem Wörtersprechen: sie bestimmte unser Leben seit ihrem Auftauchen, blieb als Motor in uns, ob wir es wollten oder nicht, hatte aber einen fahlen Beigeschmack bekommen, sie war doch auch zerbrechlich, vorläufig, unsicher, längst nicht das, wofür man sie anfangs gehalten hatte: absolut in ihrer Macht und vollkommen in der Freude, die sie mit sich zu bringen verhieß.
Nur manchmal, ganz selten, da haben wir, in einem glücklichen Moment, unsere Liebe verschenkt, ohne jeden Hintergedanken, ohne etwas dafür haben zu wollen, ohne Berechnung. Vielleicht bei einer ganz zufällig sich ergebenden Gelegenheit, wenn wir ein Lächeln erwidert oder irgendeine kleine Hilfe gegeben haben. In solchen Momenten ist dann manchmal das Gefühl aufgekommen, wie eine Erinnerung, dass da etwas ganz anderes passiert ist als das, was wir gewohnt sind, Liebe zu nennen, da haben wir den alten Boden wieder gespürt: ewig unzerbrechlich.
Aber diese Momente haben sich immer sehr schnell wieder verflüchtigt. Und die Beweise, dass alles hier bricht, alles ein Ende hat, alles letztlich stirbt, schienen viel mächtiger zu sein als diese flüchtigen Erinnerungen, die wir so schwer haben festhalten können.
Wir hatten nun mal kräftig in den Apfel gebissen, und das ließ sich irgendwie kaum rückgängig machen. Aber warum auch? Wir waren noch längst nicht am Ende unserer Möglichkeiten angelangt, die Welt nach unserem Geschmack zu ordnen.
Wir haben unseren Verstand entwickelt, ganze Rechtssysteme entworfen, mit denen sich unsrer Zusammenleben hat regeln lassen, haben die Wissenschaften erfunden, um die Kräfte der Natur verstehen und ausnutzen zu können, haben die Künste hervorgebracht, sind Psychologen und Philosophen geworden auf der Suche nach den Motiven unseres Handelns und dem tieferen Sinn unseres Lebens und sind doch bei all diesen Bemühungen um ein gutes Leben den Schatten des Schlechten nie losgeworden und auch nicht – und das vor allem nicht – die Sehnsucht nach dem Absoluten, Reinen, Heilen, Gegenteilslos – Guten. Da hat uns der Apfel aber schon zu tief im Hals gesteckt und uns verführt, das Gute doch weiter auf der Kehrseite des Schlechten zu suchen.
Aus eben jener Sehnsucht heraus sind auch unsere Religionen entstanden. Sie haben sich meist auf Einzelne von uns berufen, die anders gesprochen haben als wir, als seien sie den Apfel wieder losgeworden oder hätten nie von ihm abgebissen. Jetzt hat es auch Wörter gegeben für das Ewige, Absolute: Gott, Allah, Nirwana. Aber auch wenn wir uns noch so gesehnt haben nach der unzerbrechlichen Geborgenheit, haben wir doch, erschrocken über den durchschimmernden Gedanken, dass wir den Schatten, der uns durch die Welt treibt, selbst erfunden haben sollen, auch die Religionen der Macht unseres in Gut und Böse unterscheidenden Denkens unterworfen und haben sie oft sogar besonders stark das Schlechte und Böse betonen lassen.
Aber auch damit sind wir noch nicht am Ende gewesen, mein Freund, ich sehe Dir an, Dir ist das jetzt auch peinlich wie mir, Du weißt schon, was jetzt kommen muss: das Geld natürlich. Niemand gibt das ja zu, aber ist es nicht so, dass wir dem Geld, das zwar auch hin und wieder in die Krise kommt, aber prinzipiell doch immer da ist, klammheimlich unseren Glauben geschenkt haben als dem Wert, der der Ewigkeit, mal realistisch betrachtet, noch am nächsten kommt? Peinlich, wie gesagt, aber ich fürchte, da ist was dran. Man sagt: „Geld allein macht nicht glücklich“ und meint wohl die Erfahrung, dass man noch niemanden getroffen hat, der wirklich froh geworden ist am Geld, aber so ganz hinten, wo’s keiner sieht, versteckt sich da nicht die leise Hoffnung: „Ich könnte ja der Erste sein“?
Hier sind wir also am Boden unserer Hoffnungen angekommen und am trübsten Punkt unseres Vergessens, da, wo wir für das Gute glauben bezahlen zu können und so den Schatten des Schlechten loszuwerden.
Nur manchmal, in einem glücklichen Moment, vielleicht noch seltener als die Liebe, haben wir auch unser Geld verschenkt, ganz ohne Hintergedanken, ohne etwas dafür haben zu wollen, ohne jede Berechnung. Überleg‘ mal, wie selten das wirklich so gewesen ist! Aber es ist vorgekommen. Und auch in diesen Momenten haben wir den alten Boden wieder gespürt, und die Freude einer wenn auch noch so flüchtigen Erinnerung.
Mit den Wörtern war es doch nicht anders: vielleicht haben wir das am seltensten erlebt, aber manchmal hat jemand dankbar zu uns gesagt, dass wir ein gutes Wort für ihn gehabt hätten. Da haben wir ihm vielleicht in diesem Moment nur einen Fehler, den er uns gegenüber begangen hat, nicht angerechnet, haben die Schuld, diese Fallgrube des Geistes, gar nicht im Sinn gehabt, während wir mit ihm gesprochen haben. Oder haben seine Not, in der er sich an uns gewandt hat, zwar gesehen, aber haben uns nicht von ihr verführen lassen, haben über sie hinwegschauen können zu ihm hin und sind ganz unvermittelt dem Großen-Ganzen wiederbegegnet, in ihm und in Allem um uns herum, als sei es das Natürlichste der Welt.
Sag‘ nicht, du hast das nicht erlebt.
Eigentlich haben wir doch nie aufgehört, über Gott nachzudenken – weil wir ja gar nicht anders können.
Oder welches Wort hast Du für das Unvermeidliche?
( 15.07.2013 )