Zuhause

Die Hände schmerzten schon vor Kälte, aber wenn er stehenbleiben wollte, musste er sich an dem eiskalten Eisengeländer festhalten – und er wollte stehenbleiben!
Sein Blick ging über das abendschwarze Wasser der Binnenalster, weidete sich eine ganze Zeitlang an dem lichterfunkelnden, prächtigen Christbaum inmitten des Sees, wanderte hinüber auf die andere Seite des Wassers zum Ballindamm, der an diesem vorweihnachtlichen Abend in ein besonders festliches Licht getaucht schien, und verweilte schließlich an der Silhouette des Kirchturms von St. Petri:
Dort hatte er vor gut drei Stunden noch gesessen und eine Menge Geld zusammenbekommen, siebenunddreißig Euro in zwei Stunden, das war beachtlich!
Er hatte sich dann aufgemacht, um nach Hause zu gehen. „Zuhause“ sagte er zu dem Ort, wo er schlief und sich mit seinen Freunden traf, Erfahrungen austauschte, Probleme besprach, Rückhalt fand: Auf dem breiten Sockel des Fundaments einer großen Straßenbrücke, die die Seevartenstraße über die Helgoländer Allee führt, auf der täglich tausende von Touristen den Weg von der Reeperbahn hinunter zu den Landungsbrücken finden, dort war sein Zuhause, lange schon, sehr lange.
Er hatte, wie üblich, etwa eine Stunde gebraucht für den Fußweg aus der Stadt hinunter zum Hafen, war seinen vertrauten Weg gegangen: über die Esplanade und den Gorch-Fock-Wall, vorbei an der Musikhalle und dann durch die Wallanlagen bis hin zum Millerntorplatz, hatte erst aufgeschaut, als das gigantische Bismarckdenkmal aufgetaucht war, das ihn zwar immer etwas ängstigte wegen seiner Größe und wegen etwas, für das er längst keine Worte mehr hatte, das ihm gleichzeitig aber auch ein Zeichen war, dass er es bald geschafft haben werde: von einem bestimmten Punkt seiner Strecke aus wies die Spitze des Schwertes, welches der eiserne Kanzler vor sich hält, genau auf sein Zuhause; so jedenfalls kam es ihm immer vor.
Er hatte seine Freunde schon sehen können, als er die Helgoländer Allee hinuntergegangen war, sie hatten sich gerade ein kleines Feuer gemacht, um sich zu wärmen und ihre Sachen zu trocknen, und Vorfreude war in ihm bei diesem Anblick aufgekommen.
Dann aber war er, keine fünfzig Meter entfernt vom Ziel, wie überfallen worden von einer Art Lähmung, er hatte einfach nicht weitergehen können, oder nicht wollen – solche Unterscheidungen traf er längst nicht mehr. Er hatte sich auf das kleine Mäuerchen gesetzt, das den Gehweg zum Alten Elbpark hin begrenzt, und für einen Moment war es ihm vorgekommen, als könne er die Spitze von Bismarcks Schwert im Nacken fühlen.
Zunächst hatte er geglaubt, dass es sein intimster Freund der letzten Jahre sei, der ihn aufhielt, denn es war ihm jetzt plötzlich bewusst geworden, dass er ausgerechnet heute, wo er doch so viel Geld eingenommen hatte, den Alkohol für den Abend und die Nacht vergessen hatte zu besorgen. „Alk“, sagte er nur noch: Alk war der Name seines besten Freundes, den er niemals vergaß! Ärgerlich! Jetzt hätte er die Anderen bitten müssen, ihm auszuhelfen, und das tat er nicht gerne.
Je länger er aber auf dem Mäuerchen gesessen hatte, desto unklarer war ihm geworden, weswegen er die letzten Schritte in die schützende Gemeinschaft nicht gemacht hatte.
Viele Leute waren derweil an ihm vorbeigegangen, die meisten hatten ihn nicht wahrgenommen, was ihm ganz recht gewesen war, einer hatte ihm ein Geldstück hingeworfen, er hatte es nicht beachtet, es war ihm vorgekommen, als habe das mit ihm nichts mehr zu tun.
Irgendwann hatte er nur noch neben sich auf die Wiese, das Gras geschaut und dann, mit einem Mal, ganz plötzlich war das geschehen, hatte er sich … vergessen, er hatte sich einfach vergessen. Die wirbelnden Gedanken, die, seit er damals hinter den Rand der Gesellschaft gestürzt war, nie wieder aufgehört hatten, ihn zu quälen mit unbeantwortbaren Fragen, Erklärungsfetzen, Racheeinflüsterungen, mit Theorien, die immer verwegener geworden waren und vor denen er sich irgendwann begonnen hatte zu fürchten, vor allem aber mit Selbstvorwürfen, immer heftiger werdenden Selbstvorwürfen, dieses Gedankenkarussell, das zusammengehalten war nur durch das einzige stabile Gefühl, das er noch hatte, das Gefühl der Vergeblichkeit, dieser Strom, der zu nichts anderem dazusein schien, als ihn immer tiefer in den Abgrund zu ziehen, … war plötzlich still geworden.
Und da war einfach nichts mehr gewesen, keine Freunde mehr, kein Zuhause, kein Alkohol, keine Leute mehr, die an ihm vorbeikamen und vor allem: er selbst war nicht mehr dagewesen, verschwunden mit den Gedanken.
Nur die Grasbüschel neben sich, die hatte er noch wahrgenommen, wie sie sich leise im Wind bewegt hatten. Sonst nichts.
Ein kleiner, schlanker Grashalm, schonein wenig ausgemergelt vom Winter, hatte etwas abseits gestanden und seinen Blick angezogen: nur ein paar Zentimeter vom nächsten Grasbüschel entfernt, aber dennoch ganz allein.
„Einzeln“, hatte er noch denken müssen. Und dann war da auch kein Wort mehr gewesen, er war wie hineingefallen in diesen Halm und dessen kleine, feine Bewegungen, die gemeinsam mit dem Wind entstanden. Irgendetwas in ihm hatte diese Bewegungen mitgemacht, sie waren tief in ihm zu spüren gewesen, nicht nur mit den Augen zu sehen: dieser Tanz, diese vollkommene Wehrlosigkeit, dieses wortlos-flüsternde Gespräch zwischen Grashalm und Wind, er hatte Teil daran gehabt, sprachlos, gedankenlos.
„Miteinander“ war das erste Wort gewesen, mit dem er wieder aufgetaucht war an die Oberfläche seines Bewusstseins. „Meine Güte“, hatte er sich fast erschrocken gefragt, „kenne ich denn noch solche Wörter?“
Damals, da hatte er freilich die Sprache geliebt, viel gelesen, auch hin und wieder ein Gedicht geschrieben, damals, da hatte er mit solchen Wörtern umgehen können, und das war für ihn wie Trinken aus frischer Quelle gewesen. Aber das war lange vorbei. Seit Alk den Ton angab, war seine Sprache grob und flach geworden und diente mehr dem Verbergen als dem Hervorbringen.
Ein stechender Schmerz hinter dem Brustbein hatte ihn schließlich vollends wieder aufgerüttelt: schon lange hegte er den Verdacht, dass mit seinem Herzen etwas nicht in Ordnung sei, er hatte den Gedanken aber immer wieder verdrängt.
Auch jetzt war er augenblicklich aufgestanden und losgegangen, weg von den Ängsten, die sich da aufdrängen wollten.
Zu seinem eigenen Erstaunen war er aber nicht die letzten Meter zur Brücke und zu seinen Freunden gegangen, sondern zurück in Richtung Innenstadt. Etwas hatte energisch an ihm gezogen, er hatte keinen wirkungsvollen Einwand anführen können: hierher war er zurückgekommen, an die Binnenalster, zu den Lichtern, den Leuten, zu „seiner“ Kirche, die ihm heute so viel Glück gebracht hatte.
Und er wollte stehenbleiben, auch wenn die Hände noch so schmerzten.
Während sein Blick erneut über die Lichter der Stadt hin zum Weihnachtsbaum ging, nannte er sich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder mit seinem richtigen Namen:
„Es ist nichts verloren, Friedrich“, sagte er zu sich, „gar nichts ist verloren!“
Und dann löste er langsam die Hände vom eisigen Geländer, rieb sie eine Weile aneinander, steckte sie in die Taschen seines zerschlissenen Mantels und machte sich ein drittes Mal auf den Weg.  Nach Hause.

( 17.12.2012 )

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