Um Himmels Willen

Vorwort:

In meiner unmittelbaren Nachbarschaft befindet sich eine Einrichtung, die Eltern von schwer erkrankten Kindern die Möglichkeit gibt, für die Zeit dort zu wohnen, in der ihr Kind im nahegelegenen Krankenhaus behandelt wird. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich ihnen nicht begegne, Eltern und Kindern; manchmal geht man aneinander vorbei, manchmal grüßt man sich, nie aber lassen mich diese Kurzbegegnungen gleichgültig, sie rühren an das Gefühl der Ohnmacht und werfen Fragen auf, die nicht leicht zu beantworten sind.
Ich möchte mich mit dieser Geschichte diesen Kindern und allen, die mit ihnen sind, gerade auch jetzt in der Weihnachtszeit, verbinden: Möge das Schwere, das hier an der Oberfläche der Geschichte erzählt wird, in Geist und Herz nicht das letzte Wort haben.
Frohe Weihnachtszeit euch allen!

***

„Seien Sie aufrichtig, Herr Doktor, sie wird nicht durchhalten bis Weihnachten, … oder …?“ Für diese Frage hatte Julia all ihre Kraft zusammennehmen müssen, sie fühlte sich, als werde sich gleich die Erde vor ihr auftun und sie für alle Ewigkeit darin verschwinden.
„Frau Steiner, wissen kann ich es nicht, niemand kann das, aber rechnen müssen wir jetzt täglich damit, dass es geschieht – das ist leider wahr.“
Die Hand des Arztes fasste Julia behutsam am Oberarm, und sie ließ ihn gewähren, niemandem sonst hätte sie das in diesem Moment erlaubt. Von Doktor Karl aber, der Lilly durch ihre Krankheit begleitet hatte, ging eine große Ruhe aus, sie spürte, dass er das Sterben kannte und dass er es achtete.
„Sie weiß es auch“, sagte er jetzt leise, „und sie wartet darauf, dass Sie mit ihr darüber sprechen.“
„Sie ist fünf!“, platzte es aus Julia heraus, eine Explosion der Verzweiflung und Anklage an das Schicksal, an diesen Zynismus des Lebens, der ihr, seit sie von der Unausweichlichkeit des nahen Lebensendes ihrer Tochter wusste, zunehmend den Atem nahm.
„Ich kann das nicht! Ich kann das nicht! Machen Sie es bitte, oder seien Sie wenigstens dabei, wenn ich mit ihr spreche, bitte!“, flehte sie den Arzt an, der sie immer noch hielt, als er antwortete:
„Ich weiß, Frau Steiner, Sie können sich jetzt schwer vorstellen, die letzten Reste der Hoffnung, die wir ja immer noch hatten, Lilly heilen zu können, aufgeben zu sollen und jetzt ohne sie zu ihrer Tochter zu gehen. Aber Lilly weiß es schon, sie braucht Sie jetzt, gerade weil sie erst fünf ist, sie will, dass ihre Mama nicht erschrickt vor dem, was jetzt kommen wird. Es wäre nicht gut, wenn ich das für Sie übernehmen würde, sie würde spüren, dass Sie mich aus Angst vorgeschickt hätten. Glauben Sie mir!“ – und als Julia ihm jetzt in die Augen schaute, sah sie wieder seine Ruhe und dass er überzeugt war von dem, was er sagte – „Sie werden einen Weg finden, mit ihr ohne Angst sprechen zu können.“
Die wenigen Schritte zu Lillys Zimmer waren für Julia die Hölle. Sie stellte sich vor, dass es sich wohl so anfühlte, wenn man zum Henker geführt wird: es war ihr eigener Tod, der da auf sie wartete, und sie konnte nicht mehr weglaufen, sie musste ihre Schritte in diese vollkommen unmögliche Richtung lenken.
„Hat er gesagt: ‚dass es geschieht’ …? und: ‚ohne Angst’ soll ich mit ihr sprechen? Das kann nicht gehen, das geht nicht, das kann ich nicht, ich kann es nicht!“ Einen Rest des Vertrauens aber, das sie Doktor Karl gegenüber empfunden hatte, spürte sie noch, als sie jetzt die Klinke der Tür hinunterdrückte.
„Mami, da bist du ja endlich!“, wurde sie von Lilly begrüßt, die mit ein wenig Mühe ihren Kopf in Julias Richtung gedreht hatte.
„Ja, entschuldige, ich war noch …“
„Du hast mit Doktor Karl geredet.“
„Ja, Lilly, … ja, … ich, Kleines, … ich …“
Julia stand da in ihrer Höllenangst und bemerkte, wie ein Zittern sich in ihr breit machte, über das sie keinerlei Gewalt hatte.
„Aber Mami, Du hast doch gesagt, ich komme in den Himmel, und du kommst da auch hin, dann ist es doch gar nicht so schlimm!“
Erst in diesem Augenblick wurde Julia klar, dass Lilly ihr die Geschichte mit dem Himmel …, ja, dass sie ihr geglaubt hatte, dass sie darauf vertraute, was sie ihr in ihrer Verzweiflung, etwas Tröstendes sagen zu wollen, erzählt hatte. Julia glaubte nicht an den Himmel, natürlich nicht, wie sollte sie … sie hatte ihre Tochter angelogen!
In dieser Erkenntnis stand Julia da und wusste, dass sie keinen Schritt weiter auf Lilly zugehen konnte, ihre Muskelfasern schienen in eine Art Raserei zu verfallen, die nur eines wollte: diesen Schritt nach vorn verhindern. Es gab nur noch den Weg zurück.
„Natürlich, Lilly“, sie nahm all ihre Kräfte zusammen, um noch irgendwie vertrauenswürdig und ruhig zu klingen, „natürlich kommen wir in den Himmel, aber mir ist grade eingefallen, dass ich dringend noch mal in die Stadt muss, ein Geschenk für dich abholen, ich bin gleich wieder da!“
Sie hatte das Gefühl, jede Sekunde ausnutzen zu müssen, um noch aus der Tür zu kommen, bevor sie vor ihrer Tochter zusammenbrechen würde, drehte sich um, schaffte es zur Tür, fragte sich zwar „wieso sagt sie nichts?“, blickte sich aber nicht noch einmal um und war schon draußen.
Leer, ohne jedes Gefühl, wie eine Maschine ging sie in Richtung Ausgang.
Erst, als sie Doktor Karl am Ende des Ganges sah, belebte sich in ihr wieder ein Gefühl, und es war Zorn.
Das war doch wohl seine Aufgabe, wie konnte er nur so etwas Unmögliches von ihr verlangen, ohne dabei zu sein, um ihr zu helfen! ‚Die sind doch alle gleich!’, dachte sie, ‚wenn’s ernst wird, hauen sie ab!’, und während sie das Krankenhaus verließ und die Dunkelheit des winterlichen Abends und die Geräusche der Straße sie umfingen, kochte der Zorn in ihr hoch, der ihre Schritte wieder energisch und sicherer machte und ihr all die Bilder ins Gedächtnis holte um Jürgen, ihren Mann: wie er sie just in dem Augenblick verlässt, als Lilly krank wird, dieser Heuchler, dieses Schwein!, oh nein! nicht in diesem Augenblick, sondern einen Moment später, als die Ärzte ihnen mitteilen, dass ihre Tochter keine Überlebenschance habe! Zwei Tage danach, dieses gottverdammte Arschloch!, stellt er sich vor ihr auf und sagt ihr ins Gesicht, dieser widerliche Frömmler!, dass er schon lange beschlossen habe, und dass der Tag jetzt gekommen sei, an dem er ihr sagen müsse: er könne nicht weiter mit einer atheistischen Frau zusammenleben, und das habe selbstverständlich überhaupt nichts mit der Krankheit ihrer Tochter zu tun! Ein Immobilienmakler habe ihm gerade heute ein günstiges Angebot gemacht! Eine Woche später ist das Haus leer: Lilly im Krankenhaus und er, Jürgen, Jürgen! dieser Name!, Jürgen zieht in ein Reihenhäuschen mit hübschem Garten an den Stadtrand!
Besuchen? Nein, besuchen will er Lilly nicht, sie würde nur merken, dass die Stimmung schlecht sei zwischen ihnen beiden – er sagt, dieser … – Julia gingen die Worte aus – er … er sagt, es sei besser, sie würde sich da was ausdenken, Geschäftsreise, Auslandsaufenthalt, sie mache das schon! Nein, und gerade dann nicht, wenn es soweit sei, dann wäre es doch ganz schlecht, wenn er sich da reindränge!

‚Wenn es soweit ist’: Julia schnappte nach Luft. Der Zorn auf ihren Mann hatte ihr in den letzten drei Monaten die Kraft gegeben, durchzuhalten, sich ganz auf Lilly zu konzentrieren, er hatte sie angefüllt mit Energie! Jetzt aber, als sie sich immer weiter in Rage brachte, um sich mehr und immer mehr aus dieser Kraftquelle zu nähren, merkte sie plötzlich, an einem gewissen Punkt der Intensität, wo sie gar keine Bilder mehr zulassen wollte von Jürgen, von ihm!, nur noch jeden aufkeimenden Gedanken an diesen Mann sofort beschoss mit einer Salve ihres Zorns, dass dessen Energie begann, sich gegen sie selbst zu richten und ihr die Kraft wieder zu rauben. Als der Wagen aufblendete und sie anhupte – sie war wohl einfach mitten auf der Straße auf dem schwach beleuchteten Überweg stehengeblieben – riss der Schreck noch einmal all die verzweifelte Wut in ihr hoch, und sie schrie den Fahrer an: „Dann überfahr’ mich doch, tu’s doch! Du tust mir einen Gefallen!“, aber mit diesem Schrei kam ihr Lilly wieder in den Sinn, und sie spürte ihre Knie zittern, die nach unten wollten, runter auf den Boden, als sie dachte: ‚das würdest du wirklich,  ich dürfte vor ihr sterben, verdammt, ich dürfte vor ihr sterben!’ und schleppte sich schließlich doch weiter über die Straße in Richtung des kleinen Parks, der dem Krankenhaus gegenüber lag. Als sie ihn erreicht hatte, ging sie an der ersten, noch von den Lichtern der Straße erhellten Parkbank vorüber, suchte nach mehr Dunkelheit und fand sie, fand eine schneebedeckte Bank, die von hohen Büschen umgeben in einer vom Gehweg aus kaum einsehbaren Nische stand, setzte sich auf das unberührte Schneepolster, das leise knirschend unter ihr nachgab, und schaute ohne jeden Gedanken in die Dunkelheit einer absoluten Nacht.

„Ich würd’ mal erst den Schnee wegmachen, bevor ich mich da hinsetze, das wird doch alles nass!“
Die Frau zeigte auf Julias feinen Mantel, und begann sofort selbst, – wie um zu demonstrieren, was sie meine – den Schnee von dem noch freien Teil der Sitzfläche mit ihren bloßen Händen hinunterzufegen. Hinter ihr stand ihr Begleiter, vielmehr wankte er – offensichtlich stark betrunken – hin und her, in der linken Hand die halbvolle Cognacflasche, auf die er geradezu behutsam zu achten schien, als liege ihm ihre Sicherheit sehr viel mehr am Herzen als seine eigene. Sie trugen beide arg verschlissene Kleidung, über die hinuntergetretenen Hacken ihrer in der Farbe nur noch schwer zu bestimmenden Schuhe quollen grobe Wollsocken, und sie verströmten den Duft derer, die lange keine Gelegenheit mehr hatten, sich zu waschen und die Kleidung zu wechseln.
„Setz’ dich!“, mit einer Geste, die keinen Einwand erlaubte, wies die Frau ihrem Begleiter seinen Platz an der rechten Seite der Bank zu, sie selbst setzte sich zwischen ihn und Julia.
„Das ist unsere Bank, wissen Sie!“, redete sie wieder auf Julia ein, die bisher keinerlei Impuls verspürt hatte, irgendwie zu antworten; sie war wie in einen Nebel eingetaucht, zu den beiden Gestalten neben ihr empfand sie keinerlei Verbindung, als befänden sie sich in einem ganz anderen Raum.
Trotzdem hörte sie sich antworten, wie aus einer alten Gewohnheit heraus:
„Tut mir leid, ich sitze hier nur.“
„Das sehe ich!“, antwortete die Frau, wie alt war sie wohl, – Julia staunte selbst über ihr aufkommendes Interesse über eine solche Frage – nein, sie konnte das nicht schätzen, vierzig? fünfzig? oder doch viel älter …?
„Ich geh’ gleich“, setzte sie hinzu und wollte ihr Versprechen auch sofort in die Tat umsetzen. Aber ihr fehlte der Wille, aufzustehen, sie saß da wie eine Marionette ohne Puppenspieler.
„Ich geh’ gleich!“, wiederholte sie nur.
„Schon gut, schon gut!“ beschwichtigte sie jetzt die Frau neben ihr, die sie dabei irgendwie besorgt ansah, sich aber dann wieder dem Mann zu ihrer Rechten zuwandte, der ständig drohte, von der Bank hinunterzukippen, und ihn anfuhr:
„Setz’ dich mal ordentlich hin!“, was von dessen gehorsamen, aber eher halbherzigen Versuchen beantwortet wurde, dieser Anordnung Folge zu leisten.
Julia hatte begonnen, sich die beiden ausführlich anzuschauen, irgendwie dankbar, dass überhaupt etwas ihren Geist anfüllte, folgte sie der Szene wie einem Unterhaltungsfilm, der sie gleichgültig ließ. Wie grob alles an diesen Leuten war: ihre Sprache, ihr Aussehen, die Gestik, wie auf das Notwendigste reduziert schien alles, einer trägen Mechanik des bloßen körperlichen, momentanen Überlebenwollens zu folgen.
Dann aber geschah etwas, das Julia aus ihrer Trägheit herausriss: der Mann verlor endgültig den Halt auf der Bank und begann ohne jegliche Gegenwehr von ihr hinunterzurutschen, dem eiskalten Schnee entgegen. Mit einer blitzschnellen Bewegung, die Julia ihr niemals zugetraut hätte, packte die Frau ihn am Arm, umfasste gleichzeitig seine Schulter und zog ihn mit einer energischen Bewegung zurück. Und in diesem Moment, als er wieder in Sicherheit war, in ihren Armen, ganz kurz, bevor sie ihn wieder los- und sich selbst überließ, sah Julia die Hand der Frau im Nacken des Mannes liegen, und sie glaubte zunächst, etwas zu sehen, was sie aus ihrem Leben sehr wohl kannte, oh ja, etwas, von dem sie gesagt hätte, dass es zum Schönsten gehöre, was ihr das Leben zu bieten habe: sie sah Zärtlichkeit. Aber dann wurde sie gewahr, dass sich da vor ihren Augen etwas abspielte, was sie selbst so noch nie erlebt hatte, da ging etwas über alles hinaus, was sie kannte, und was sie nur mühsam fassen konnte: die Armut dieser Leute war für diesen einen Moment verschwunden, nein, nicht nur überdeckt, sie war nicht mehr, sie existierte gar nicht, hatte es nie gegeben, die Aussichtslosigkeit, die von diesen beiden Menschen neben ihr eben noch ausgegangen war, hatte sich wie aufgelöst, und sie waren in etwas eingetaucht, für das Julia endgültig keine Worte mehr hatte.
„Hör’ endlich auf zu saufen!“, hörte sie jetzt die Frau streng zu ihrem Begleiter sagen, bevor sie sich Julia zuwandte und erklärte:
„Er säuft zu viel!“
In Julia stiegen wieder die Bilder auf, Lilly erst, Dr. Karl, dann ihr Mann, den sie ja mal … verdammt! Nein, so hatte sie ihn nie anfassen können, so … total!
Konnte es sein, dass er einfach nur aus Angst … sie war ja selbst gerade vor ihr weggelaufen, war sie das nicht? Konnte es sein, dass er jetzt in seinem Haus am Stadtrand saß eben so, wie sie hier in diesem Park, dass das seine Flucht in die Dunkelheit war, aus Angst vor dem Sterben seiner Tochter? Konnte es sein, dass er sich noch weniger kannte als sie sich? Dass er sich lieber ihrem Hass und ihrer Verachtung aussetzte als in etwas hineinzugeraten, worüber er glaubte, keinerlei Kontrolle mehr zu haben? War dieses halb-wahnsinnige Verhalten von ihm einfach nur Angst … starrte er vielleicht genauso hilflos ins Finstere wie sie?
‚Aber unverantwortlich bist du doch!’ Mit diesem Gedanken katapultierte sich Julia auf die Beine und ging los, in Richtung Krankenhaus.
Nach ein paar Schritten aber blieb sie wieder stehen. Ihre Hand hatte in der Manteltasche den Hunderter ertastet, den sie sich vorhin noch schnell eingesteckt hatte.
‚Ich werde das jetzt nicht bezahlen!’, versuchte sie sich aufzuhalten, aber da hatte sie sich schon umgedreht, ging die wenigen Schritte zur Bank zurück und streckte der Frau das Geld hin, während sie noch dachte: ‚lass’ das, das macht doch jetzt alles kaputt!’
„Hundert Euro? Sind Sie bekloppt?“ Wie eine Schnecke zog sich die Frau hinter ihre harte Schale zurück und machte keinerlei Anstalten, das Geld zu nehmen.
Julia sah sich bestätigt, wollte sich schon umdrehen und gehen, aber ihre Hand gehorchte ihrem Vorsatz nicht, streckte sich weiter nach vorn und forderte die Frau wortlos auf, das Geld anzunehmen.
Und die nahm es dann, zögerte erst noch, nahm es schließlich ebenso wortlos an, und ganz kurz nur berührten sich dabei die Hände der beiden Frauen und erzählten einander, während das Geld von der einen in die andere gegeben wurde, von einem Reichtum, der unbezahlbar war.

*

Als Julia vorsichtig, um Lilly nicht zu wecken, die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, schlug ihr das Herz bis zum Hals: ‚Sie hat es nicht gemerkt vorhin, sie hat mir geglaubt, sie hat nicht gemerkt, dass ich Angst gehabt habe …’, versuchte sie sich Mut zu machen, während sie eintrat.
Aber Lilly schlief nicht, sie hatte die Schwester gebeten, das Kopfteil hochzustellen und saß hellwach und wie unter Strom kerzengerade in ihrem Bett.
„Mami, warum bist du denn vorhin weggelaufen, stimmt das gar nicht mit dem Himmel?“
Sie hatte nicht abgewartet, bis Julia vollends zur Tür hereingekommen war, diese Frage hatte sie in der halben Stunde ihres Alleinseins wie aufgeladen, etwas, das sie in Sicherheit eingehüllt hatte bisher, war von dem Augenblick an bedroht gewesen, als ihre Mutter fluchtartig das Zimmer verlassen hatte. Eine dunkle Wolke des Zweifels hatte sich über ihr aufgetürmt: ihre Mami glaubte womöglich gar nicht an den Himmel, in dem sie sich wiedersehen würden. Aber mit all ihrem Willen hatte sie dennoch an der Möglichkeit festgehalten, dass sie sich mit ihren Bedenken täuschte, und dieser Zwiespalt hatte sie wie elektrisiert: alles in ihr wartete nur noch auf die Rückkehr Julias, die allein ihr Antwort geben konnte.
Für einen Moment verharrte Julia in der halboffenen Tür, wie eine Mauer baute sich die Frage ihrer Tochter vor ihr auf, stand da wie vorhin, als sie noch unausgesprochen gewesen war und sie in die Flucht geschlagen hatte, unausweichlich stand sie vor ihr und verlangte nach Antwort.
Plötzlich aber fühlte sie, wie alle Angst von ihr abfiel, aus ihrem tiefsten Inneren breitete sich beim Anblick ihrer Tochter ein Lächeln in ihr aus:
„Lilly!“, sagte sie nur, schloss leise hinter sich die Tür, zog ihren nassen Mantel aus und setzte sich zu Lilly aufs Bett, „Kleines!“. Behutsam legte sie den Arm um ihre Tochter und drückte sie an ihr Herz, und sie spürte, wir auch Lillys Anspannung sich in der Umarmung in Nichts auflöste und, es öffnete sich ihnen ein Raum, den Julia zum ersten Mal in ihrem Leben betrat, gemeinsam mit ihrer kleinen Lilly: ein Raum uferloser Nähe. Diesmal aber fand sie Worte dafür, und sie sah in vor wiedergewonnenem Vertrauen groß und kreisrund strahlende Augen, als sie leise sagte:
„Lilly, Kleines, es ist wahr, da können wir ganz sicher sein: wir kommen in den Himmel!“
„Papi auch?“, fragte Lilly sofort, und kein Schatten des Zweifels verzögerte Julias Antwort:
„Papi auch, natürlich, Kleines, Papi auch!“

Lilly war zwar sehr erschöpft, aber die beiden konnten noch nicht voneinander lassen, und so saßen sie eine ganze Weile beisammen und redeten und erzählten, lästerten über die Schwestern und fanden Doktor Karl toll, bis Lilly schließlich fragte:
„Mami – und dabei gähnte sie demonstrativ ausgiebig – „ich bin müde, darf ich ein bisschen schlafen?“
„Ja, Lilly, schlaf ruhig ein wenig“, antwortete Julia, während sie das Kopfteil des Bettes wieder flach stellte, „ich kann ja inzwischen eine Tasse Kaffee trinken gehen.“
Lilly wusste genau, wie versessen Julia auf Kaffee war, sie hatten zu Hause schon immer Witze darüber gemacht, und sie strahlte übers ganze Gesicht, als sie sagte:
„Ja gut, Mami, mach’ das, aber nur eine! – und dann kommst du wieder!“
„Natürlich, Lilly, nur eine, und dann komm’ ich sofort wieder!“ Julia strich ihr noch einmal sanft über die Wange, ging dann leise hinaus und schloss die Tür hinter sich. Als sie Doktor Karl auf sich zukommen sah, der Lilly gerade einen Besuch abstatten wollte, hob sie die Augenbrauen und legte einen Finger auf die Lippen.
„Oh, sie schläft, dann lassen wir sie natürlich schlafen“, flüsterte der Arzt verstehend, und ein paar Meter gingen sie gemeinsam über den Gang.
„Ich sehe Ihnen an, dass sie einen Weg gefunden haben, mit ihr zu sprechen, habe ich recht?“, ermuntert der Arzt Julia, von ihrer Begegnung mit Lilly zu erzählen.
„Ja, Doktor Karl, wir haben gesprochen“, antwortete sie ihm, aber sie empfand diese Antwort als zu kurz, als unvollständig, irgendwie fühlte sie sich diesem freundlichen Arzt gegenüber verpflichtet, mehr zu sagen, und ja, es war ihr auch selbst ein Bedürfnis, weiterzureden:
„Wir haben gesprochen“, wiederholte sie, und war zu ihrem eigenen Erstaunen ganz unaufgeregt dabei, „aber ob ich es war, die den Weg dahin gefunden hat, das weiß ich nicht. Er war einfach da. Es gab ihn, und ich bin unendlich dankbar dafür.“
Dabei schaute sie dem Arzt in die Augen und sah, dass er genau wusste, von was sie da sprach, sah in seiner Ruhe, dass er eben nicht nur das Kranksein und das Sterben kannte, sondern vor allem auch das Heilsein und das durch alles und jedes hindurch sich uns schenkende, unveränderliche Leben.

*

Lilly war nicht mehr aufgewacht. In der Nacht war sie gestorben.
Julia war in eine Art Trance geraten, in der die Bilder des gestrigen Tages und der Nacht an ihr vorüberliefen, ohne dass sie sie irgendwie bewertete. Sie hatten ihr Beruhigungsmittel geben wollen, aber die hatte sie gar nicht gebraucht, ganz von selbst war sie eingehüllt worden von einer leisen Traurigkeit, die erstaunlicherweise umgeben war von einer Art Glücksgefühl, und dahinter nur Wolken, Watte, Nebel. In diesem Zustand war sie in ihren Wagen gestiegen und hatte sich aufgemacht zu Jürgen, ihrem Mann, um ihm die Nachricht zu überbringen und das Notwendige mit ihm zu besprechen.
Während sie durch den starken Schneefall hindurch so konzentriert wie es ihr möglich war, ihren Weg im dichten Straßenverkehr suchte, liefen weiter die Bilder durch ihren Geist wie ein Film, den sie ohne innere Beteiligung anschaute. Eins dieser Bilder aber blieb hartnäckig vor ihr stehen und wollte nicht weichen: Sie sah das neue Zuhause von Jürgen vor sich, nur einmal hatte sie ihn dort besucht – nein, eher hatte sie ihn wohl aufgesucht damals – , ein unscheinbares Reihenhaus mit Garten. Schließlich fühlte sie sich geradezu bedrängt von diesem Bild und wollte es verscheuchen, aber es gelang ihr nicht. Erst, als sie sah, was sie sehen sollte, verblasste es und verschwand schließlich vor ihrem inneren Auge: Es war die Tür, die Tür seines Hauses, sie hatte einen kleinen Spalt weit offengestanden.

***

5 Gedanken zu “Um Himmels Willen

  1. Wie unermesslich groß ist das Geheimnis des Evangeliums. Die Liebe kommt in unsere Welt und der Geist sagt Dir: Du bist aufgenommen in Gottes Herrlichkeit.
    Gesegnete Weihnachten!

  2. Richard Dawkins (als neuzeitlicher Nachfolger des berühmten Boethius) fand eine – wissenschaftlich anmutende – Begründung der These, dass der trostspendende Charakter des Glaubens für uns lebensnotwendig ist.
    Ein gesegnetes 2014 wünsche ich dir!

    1. Ich habe das Buch „Das egoistische Gen“ von Dawkins gelesen und kenne den Inhalt seines Buches „Der Gotteswahn“. Dawkins ist ein Agnostiker, der vordergründig alle wissenschaftliche Anstrengungen unternimmt, die Gottesfrage objektiv zu klären, und dabei zu dem Schluss kommt: die Existenz Gottes ist extrem unwahrscheinlich. Er wird auch als Vertreter des „Neuen Atheismus“ bezeichnet und hält Religionsausübung ausdrücklich für schädlich.
      Für mich hat Herr Dawkins sich der Frage nach Gott nie wirklich geöffnet, so wie ich das begreife. Das Ergebnis seines Nachdenkens steht von vornherein fest, weil der Verstand, der Liebe und Demut als unwissenschaftlich aus seinem Denklabor verweist, nur zu dieser Antwort kommen kann: Da draußen ist kein Gott! (hat das nicht mal ein Astronaut so konstatiert beim Blick aus seiner Raumkapsel?)
      Und dennoch: er beschäftigt sich mit der Frage. Ich habe eine meiner Begegnungen mit einem Agnostiker beschrieben in der Geschichte „Der Dritte im Bunde“: alles ist möglich, das Leben belehrt uns auf seine Weise.
      Ich wünsche auch dir ein gesegnetes Neues Jahr und ich schließe in diesen Segenswunsch ausdrücklich und ohne jeden Hintergedanken Herrn Dawkins mit ein.

      Michael

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