Es würde ein einsames Weihnachten für mich werden, ich hatte mich damit abgefunden: meine Urlaubstage waren bereits verpulvert, alle Freunde, die mir an den Feiertagen theoretisch hätten Gesellschaft leisten können, waren praktisch in Urlaub oder sonstwie unerreichbar, und meine Frau hatte sich für zwei Wochen zu ihrer Mutter aufs westfälische Land verabschiedet. Die beste Schwiegermutter von allen braucht seit einiger Zeit etwas Hilfe im Alltag, und meine Frau hatte für diese zwei Wochen übernommen, was sonst eine Hauhaltshilfe leistet.
Nicht, dass dies ein Problem für mich gewesen wäre, wie gesagt: es handelt sich um eine ‚Schwiegermutter’, die keiner der Assoziationen gerecht wird, die üblicherweise mit diesem Wort verbunden sind. Als sie neulich mit heftigen Nierenkoliken und entsprechend höllischen Schmerzen im Krankenhaus liegt, da bedankt sie sich jedes Mal trotz aller Ungemach, wenn ihr das Kopfkissen aufgeschüttelt wird, oder bei anderen kleinen Hilfestellungen, und irgendwann sitzt dann eine der Schwestern an ihrem Bett, drückt ihre Hand und sagt: „Wissen Sie was, Frau B., Sie sind einfach eine kleine, liebe, süße Maus!“ Und das ist sie wahrlich!
Ich bin in der außergewöhnlichen und glücklichen Lage, meine eigene Frau zu lieben, und ich bin gerne, wann immer es möglich ist, mit ihr zusammen; aber vor dem geschilderten Hintergrund ging ich dennoch leichten Herzens für eine Weile in die Einsamkeit, zumal ich der Vorstellung des Alleinseins durchaus auch viel abgewinnen kann: Innehalten, Meditieren, Stillwerden, Zu-mir-Finden und – jetzt kommt’s: Eierravioli aus der Büchse!! Man muss wissen, dass ich es bin, der normalerweise bei uns kocht: aus der Biogemüsekiste, gesund bis zum Abwinken! Für diese Zeit des Alleinseins hatte ich mir aber großzügigerweise vom Kochen Urlaub gegeben und mich mit Konserven und Tiefkühlfertiggerichten katastrophensicher eingedeckt. Ich weiß nicht, ob das noch nachvollziehbar ist, aber speziell Eierravioli aus der Büchse (Maggi, unbedingt, und zwar ohne Schnickschnack, sondern Urform, wie Gott sie schuf, da bin ich durchaus fundamentalistisch!) stellen für mich den höchsten Ausdruck perfekter Autonomie dar. In dem Augenblick, wenn ich den Büchsenöffner ansetze, tauche ich ab in einen fraglosen Zustand vollkommener Selbstbestimmtheit und Geborgenheit: Glück in Dosen sozusagen. Das hat schon dazu geführt – das ist jetzt nur was für starke Nerven! – dass ich das Zeugs kalt ausgelöffelt habe, das schmeckt nicht, klar! – aber darum geht’s ja gar nicht!
Vergleichbar ist die Sache höchstens noch mit einem Kaffee to go&drive auf einer Autobahntankstelle, der traditionell widerlich schmeckt und so teuer ist, dass sich ein Kauf eigentlich definitiv verbietet und durch nichts zu rechtfertigen ist, außer …, aber da betreten wir bereits den schwankenden Boden des Mystischen, ich lass’ das mal so stehen.
Man kann sich jetzt – nehme ich mal an – meinen Geisteszustand in etwa vorstellen, in dem ich mich an Heiligabend nach der Arbeit meiner Wohnungstür nähere: noch unschlüssig, ob ich meine Weihnachtsfeier eher zur Stärkung der seelischen Kräfte oder doch lieber für eine kleine, gemütliche Regression nutzen soll, jedenfalls bereit, die Zugbrücke hochzuziehen und herrlich: allein zu sein!
Der Schlüssel steckt schon im Schloss, da höre ich Geräusche in der Wohnung. Einbrecher! Großstadt, Parterrewohnung, Weihnachtszeit, da ist der Gedanke nicht ganz abwegig, dass meine Wohnung gerade von einem Zeitgenossen heimgesucht wird, der die Sache mit der Bescherung etwas eigenwillig auslegt und mein Hab und Gut soeben im Begriff ist, seinen Besitzer zu wechseln. Weitere Überlegungen in diese Richtung bleiben mir aber zum Glück erspart, da mir jetzt in beeindruckender Lautstärke ein mir bis zu diesem Zeitpunkt noch unbekannter Frauenchor ein energisches „O Tannenbaum, o Tannenbaum“ durch die noch geschlossene Tür entgegenschmettert. Ermutigt durch die wohl allgemeinen Konsens findende Tatsache, dass Einbrecher in der Regel nicht dazu neigen, überraschend heimkehrende Wohnungsinhaber mit Gesang, schon gar nicht mit einem Weihnachtslied zu empfangen, öffne ich beherzt die Tür – und da stehen sie nun: Maria, die beste Schwiegermutter von allen, am Arm ihrer Tochter, und holen mit von der Spannung und dem Gelingen dieses Überraschungscoups heißen Gesichtern alles aus sich raus, was geht: „O Tannenbaum, o Tannenbaum!!!“
Es gibt sicherlich umfang – reiche wissenschaftliche Untersuchungen über außergewöhnliche Bewusstseinszustände, aber ich frage mich, ob ein solcher Fall schon Eingang in die psychologische Fachliteratur gefunden hat, bei dem dem Probanden mittels eines einfachen Weihnachtsliedes das Orientierungsvermögen in Zeit und Raum förmlich aus der Hirnschale gesungen wird: ich stehe da, sehe, höre, verstehe, dass die beiden sich im Flur in der mir vertrauten Form materialisiert haben und aus vollem Halse singen – aber für Sekunden glaub’ ich’s einfach nicht: Es kann nicht sein! Die sind doch da hinten, also etwa 300 km von Hamburg entfernt, in einem kleinen westfälischen Dorf und schmücken den Weihnachtsbaum, ich hab’ doch gerade noch telefoniert …, bis ich sozusagen meinen Unglauben einfach fallen lasse und … na ja, mitsinge, so laut ich kann, „O Tannenbaum!!!“; die Tür steht noch offen, die Nachbarn werden wohl denken, der Chor der Gefangenen sei ausgebrochen!
Es war alles von langer Hand geplant, seit Wochen liefen die Vorbereitungen: Weihnachtsbaum besorgen und bei der Nachbarin auf dem Balkon verstecken, Lebensmittel (also mit den Ravioli wurde dann nichts, wie sich denken lässt …) vorbestellen, alle zum Schweigen verpflichten, telefonische Ablenkungsmanöver etc.: es beeindruckt die strategische Stringenz, mit der da vorgegangen wurde! Die arme Schwiegermutter musste um 5 Uhr morgens aufstehen, und man war noch vor dem Morgengrauen aufgebrochen. Sogar mein Schwager – ein begnadeter Lichterkettenverleger – der morgens noch hatte arbeiten müssen, war am Abend mit dem Zug nachgekommen!
Wir feierten dann, nachdem die Suchaktion „Wo ist der Standfuß für den Baum?“ nach einer knappen Stunde doch noch zum Erfolg geführt hatte, gemeinsam Weihnachten, und sangen dabei selbstverständlich sämtliche Weihnachtslieder rauf und runter, bis uns schwindelte.
Ja, und jetzt bin ich also wieder allein, und ich …, mal ehrlich: ich glaub’ mir die Sache immer noch nicht so ganz, vielleicht war das alles doch nur ein Traum? Der Tannenbaum allerdings spricht eindeutig dagegen, den haben meine Lieben dankenswerterweise hiergelassen.
Warum erzähl’ ich das eigentlich? Vielleicht, weil das Glück, das nicht aus der Büchse kommt, und auch nicht in Dosen zum späteren Verzehr angesammelt werden kann, einfach nur überfließen will und sich verströmen.
In diesem Sinne wünsch’ ich uns allen ein frohes, liebevolles und von Frieden erfülltes Jahr 2014!
Michael
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