Das Paradies ist irgendwo da vorne!

Der Alltag ein Kampf, mehr oder weniger: Verteidigung, Rechtfertigung, kleine Erfolge, größere Misserfolge; Nachbessern der Strategien: große Erfolge, kleinere Misserfolge; Klarbleiben. Abgrenzen. Dranbleiben. Hoffen. Was ist die Wahrheit? Die Frage instrumentalisiert, zweckdienlich.
Einmal im Jahr drehen sich alle nach Dir um, alle, die eine Beziehung zu Dir haben, Dich kennen. Kennen sie Dich? Negative, neutrale, positive Beziehungen, die ganze Palette. Nein, nicht alle, die meisten drehen sich nach Dir um, und gratulieren: „Schön, dass Du da bist!“ Das ist mehr als nur eine Geste, da schimmert etwas Wesentliches durch: Einmal im Jahr wirst Du erkannt in Deinem Bedürfnis, Dich mit der Wahrheit zu versöhnen, ganz Du sein zu dürfen. Geburtstag. Ganz Du sein, ganz ich sein: als Gefeierter natürlich, als König. Trotzdem, es ist nicht nur ein leeres Ritual, da klingt was an.
Die Zeit rennt Dir weg, sagt man, und spricht ein weises Wort gelassen aus damit, sofern man’s recht versteht: Lass‘ sie doch wegrennen!
Vor dreißig Jahren war das noch kein Thema, Du hattest gar kein Wort für das Ziel Deines Lebens, Du hast Deine Erfolge, die vielen kleinen und großen Höhepunkte gesammelt und irgendwie hochgerechnet: klar, dass es Dich ganz von selbst irgendwann ins große, eigentliche Ziel führen würde, selbstverständlich sozusagen. Du hattest kein Wort dafür, wolltest gar keins haben, es hätte das ständig laufende Hochrechnen nur gestört. Es würde sich ergeben. Abwarten. Zeit genug. Und hast weiter aufgebaut, umgebaut, neu organisiert, frischen Anlauf genommen, tief durchgeatmet, trainiert: beim nächsten Mal zehn Zentimeter weiter!, hast weiter hochgerechnet: das Paradies ist irgendwo da vorne.
Später sind dann einige Bastionen weggebrochen, da hat’s dann schon mal heftig an den Fundamenten gerüttelt. Und irgendwann hast Du endlich überlegt, was wohl das Wort sei für das Ziel Deines Lebens, und da kamst Du erst drauf: „Ich will mich mit der Wahrheit versöhnen!“ Das war Dein Wort, und es gefunden zu haben, hatte etwas sehr Erleichterndes für Dich: endlich raus aus dem Fischen im Trüben!
Und jetzt nur: wie?
Die Zeit, sie ist Dir nicht treu, sie läuft Dir weg: an jedem Geburtstag – dieser ist der …, ha! ich verrat’s nicht!, immerhin noch „Uhu“ (unter Hundert) – an jedem Geburtstag merkst Du, dass die Zeit zwar nach wie vor unter den Gästen ist und Dir gratulieren will, aber dabei zunehmend ein schiefes Lächeln ins Gesicht bekommt: sie grinst.
Vielleicht muss man sich das nur einmal mit offenem Visier anschauen: die Zeit, wie sie Dich  angrinst, um endlich auf die richtige Idee zu kommen: ohne sie zu feiern!
Und genau das mach‘ ich heute wieder! Ich geh‘ raus, raus zu Euch, und gratulier‘ Euch allen ganz herzlich zum Geburtstag! Dir, der du das gerade liest, alles, alles Gute!, Dir, der Du mir zu meinem Geburtstag geschrieben hast, und dann doch eher in so eine Art egomanische Selbstbeweihräucherungsepik übergegangen bist:  Wir haben alle Geburtstag heute! Herzlichen Glückwunsch!, Dir, die Du mir am Telefon ein Liedchen gesungen hast, alles Liebe wünsch‘ ich Dir! Und dann geh‘ ich durchs Gras und fühl‘ mich ihm nah, schau‘ in den Himmel und bring‘ den Wolken ein Geburtstagsständchen, und denk‘ an meine Lieben, die mit mir dieses Lied jetzt singen. JETZT.
Und dann erst, dann erst lass‘ ich mich feiern. Nicht als Kleinkönig der Besonderheit, sondern meine Freude lass‘ ich feiern, dem Ziel wieder einen gr0ßen Schritt näher gekommen zu sein: mich mit der Wahrheit zu versöhnen.
Und die Zeit? Bisher ist sie nicht aufgetaucht, die alte Grinsekatze. Ach was, ich gratulier‘ ihr auch! Herzlichen Glückwunsch!

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