„Wirklich beeindruckend! Sie sind ja perfekt horizontal organisiert! Atmen Sie gelegentlich auch mal vertikal durch?“
Der junge Mann, dem ich diese zugegebenermaßen etwas eigenartige Frage stelle, hat mir gerade Erstaunliches erzählt und blickt mich nun mit seinen pfiffigen Augen an, aus denen Vorfreude auf das Vergnügen blitzt, das er sich wohl vom Anblick meines Gesichtes verspricht, wenn er mir gleich Antwort geben wird.
Zwei Stationen zuvor ist er in den fast leeren Bus eingestiegen, hat sich trotz freier Platzwahl neben mich in die Bank gesetzt und mit sorgenvoller Miene begonnen, sein rechtes Handgelenk zu massieren.
„Sind Sie auf die Hand gefallen? Haben Sie Schmerzen?“, habe ich ihn gefragt, worauf er seine Selbstbehandlung sofort eingestellt, sich aufgerichtet und wortreich erklärt hat, dass es sich lediglich um leichte Gefühlsstörungen in den Fingern handle, verbunden mit mäßigen Schmerzen im Handgelenk. Ursachenforschung hat er nicht betrieben, Ärzte, Diagnostik, Medikamente, das käme alles nicht in Frage, schon deshalb nicht, weil er heute noch nach Hongkong reisen müsse.
Und jetzt, keine drei Minuten später, kenne ich bereits die Eckpunkte des beruflichen Werdeganges sowie die Basiselemente der Weltanschauung dieses mir durchaus nicht unsympathischen Kerls: Abi, Informatikstudium, Firma gegründet („IT, nichts Besonderes, das klingt nur immer so großartig“), Deutschland hinter sich gelassen („der Staat ist ein Dienstleister! wenn er die Verwaltungsstrukturen zu kompliziert und zu teuer macht, muss man gehen“), Lebensmittelpunkt nach Schweden verlegt („ist gar nicht schlecht gelaufen, aber ich löse mich gerade wieder, war noch nicht optimal“), und jetzt die Firma halb in Dubai, halb in Hongkong platziert („die meisten meiner Leute kenn‘ ich gar nicht persönlich, werd‘ ich auch nie kennenlernen, warum auch, wir haben alle einen Laptop!“).
Wie alt er sei, habe ich noch wissen wollen.
„Sechsundzwanzig!“ Und da hat er den Stolz doch nicht ganz verbergen können, der aber schon wieder seiner „Wo sind Ihre Probleme? Wir haben sie schon gelöst! – Coolness“ gewichen ist, als er mir jetzt auf meine Frage, die ich aus einem vagen Bedürfnis gestellt habe, in diesem weltweiten Aktivitätsraum sozusagen eine Dachluke zu öffnen, erwidert:
„Klar, das ist mein liebstes Hobby: Vertikal – Durchatmen!“
Es ist für ihn Ehrensache, auch auf eine solche Frage sportlich zu antworten, Unbeantwortbares gibt es für ihn prinzipiell nicht, und er genießt es, das bei dieser Gelegenheit zu demonstrieren.
„Kennen Sie das Bedürfnis, Wurzeln zu schlagen?“ frage ich weiter, und er zögert auch hier keinen Augenblick mit seiner Reaktion:
„Ach, wissen Sie, unsere Generation schlägt ihre Wurzeln lieber in dem Grund und Boden, den sie selbst programmiert hat“, er lacht auf über seinen Einfall, und fügt dann ernster hinzu:
„Also fester Freundeskreis, Religionen, Ideologien: das ist out, wir sind überall und fragen nur: bist Du mir sympathisch, haben wir ein gemeinsames Ziel, können wir unsere Kräfte zusammenlegen? Und dann tun wir’s. Oder eben nicht. Meine Freundin in Hongkong zum Beispiel lebt noch in ihrem muslimischen Elternhaus, da sind sie sehr streng, und sie muss die Regeln, die in diesem Rahmen gelten, absolut beachten. Aber wenn sie das Haus verlässt, wenn sie mit mir zusammen ist, gelten andere Regeln. Das geht. So machen wir das.“
„Und die Hand?“ frage ich, und weiß selbst noch nicht genau, worauf ich eigentlich hinaus will.
„Was ist mit der Hand?“ jetzt scheint er doch ein wenig ärgerlich zu werden, aber nun bin ich schon mal dabei …
„Was machen wir mit ihr?“
„Was sollen wir schon mit ihr machen? Nichts machen wir. Das trainier‘ ich weg!“
„Hat sich immer alles so wegtrainieren lassen?“
„Ja klar, … na ja, fast alles“, sagt er, leiser geworden jetzt, und fängt dabei wieder an, sein Handgelenk zu massieren, „nicht alles, nein, ich hab‘ gestern hier in Hamburg meinen Bruder im Krankenhaus besucht, er ist Handwerker, also er macht vielmehr ein Praktikum am Bau, will Architektur studieren. Vor einer Woche ist er vom Gerüst gefallen, sie wissen nicht, ob sie ihn wieder hinkriegen. Damit komm‘ ich, ehrlich gesagt, nicht klar. Ich freu‘ mich sonst eher über Probleme, weil ich sie alle lösen kann, früher oder später. Aber das mit meinem Bruder, da kann ich nichts, gar nichts kann ich da lösen!“
„Tut mir leid“, sag‘ ich, fast ein wenig erschrocken über die unerwartete Wendung des Gesprächs, oder vielmehr über den jähen Absturz der Selbstsicherheit dieses jungen Mannes, der jetzt aussieht, als sei er in einen Brunnen gefallen ohne jede Aussicht auf Befreiung.
„Er hat mich nicht mal erkannt!“, fährt er fort, und wirkt immer einsamer, „ich hab‘ dann einfach gehen wollen – das ist jetzt noch wie eine Kette um meine Beine, ich hab‘ sowas noch nie erlebt: gehemmt zu sein, wenn ich mich lösen will, nicht weggehen zu können … – also ich gehe trotzdem, ich muss ja, in drei Stunden ist Abflug, und ich werde dabeisein! … Aber es fühlt sich nicht gut an, verdammt noch mal!“
„Dann bleiben Sie!“, sage ich, und jetzt wird er wirklich zornig:
„Ich sage doch: das geht nicht! Und das würde ihm auch nicht helfen. Ich kann nichts tun!“
„Bleiben Sie innerlich!“
Jetzt schaut er endlich von seinem schmerzenden Handgelenk auf und sieht mich fragend an: „Wie meinen Sie das?“
„Verbinden Sie sich mit ihm, und bleiben Sie bei ihm, während Sie nach Hongkong reisen.“
„Und das soll ihm helfen?“ Es ist kein Spott in seinem Blick, vielleicht eher ein Bemühen, spöttisch zu blicken, das aber nicht ankommt gegen den Hoffnungsschimmer, den ich in seinen Augen sehe.
„Würde es Ihnen denn helfen, wenn Sie in seiner Lage wären und er würde in Hongkong an Sie denken und bei Ihnen sein?“
Jetzt schaut er mich nur noch an, oder vielmehr durch mich hindurch, und wir schweigen. Irgendetwas scheint er zu sehen, sucht es zu fassen wie etwas Vergessenes, das nur schemenhaft wieder auftaucht, und sagt schließlich:
„Vertikal durchatmen, was?“
„Hm …“
„Ich muss hier raus!“ Er springt auf, und als er in Richtung Tür eilt, ist er schon wieder ganz kontrollierter Weltmann, ist schon draußen und dreht sich doch noch mal um:
„Ich versuch’s! Machen Sie’s gut!“
‚Danke‘, sag‘ ich leise, und wünsch‘ ihm ebenfalls von Herzen alles Gute, horizontal wie vertikal.
*
Wenn ihm das innere Bei-seinem-Bruder-Bleiben gelingt, dann hat er sein größtes Schwerniss überwunden, nämlich den unbemerkten Glauben, allein die Anwesenheit des Körpers sei „das Leben“, und einzig das sinnlich Vernehmliche sei „wahr“. Ein Riesenschritt! 🙂
In der Tat! Das wäre ihm zu wünschen.
Wir haben ja wahrscheinlich alle schon die Erfahrung gemacht, dass wir einem anderen Menschen nahe sein können, wenn wir uns mit liebevollen Gedanken mit ihm verbinden, und das im wahrsten Sinne des Wortes unabhängig von Zeit und Raum, selbst unabhängig davon, ob der Andere noch körperlich lebt oder nicht.
Was ist das Leben? Wo ist Hier? Wann ist Jetzt? Was ist wahr? Die Antworten entziehen sich unseren Definitionen, aber nicht unserem Erleben. Die „Vertikalachse“ unseres Erlebens ist der Kommunikationskanal der Liebe, der uns als den „Einen Menschen“ verbindet, als Christ würde ich sagen: als den Christus. Aber auch das ist nur ein Symbol für das Nichtdefinierbare, das auf dieses Erleben des Verbundenseins hinweisen und es nicht begrenzen will. Es ist schwierig, über diesen Bereich zu sprechen, aber notwendig, wenn wir das Erleben stabilisieren wollen.
„Der Mensch ist unheilbar religiös“, hat mal jemand gesagt, und das ist auch meine Erfahrung und mein Credo: wie wir es nennen, ist prinzipiell egal, um unsere Verbundenheit mit allem Leben kommen wir nicht herum. Gott sei Dank.
Vielen Dank, Achim, und Frohe Ostern!
Sehr schön und
sehr instruktiv
Ich danke Dir, Mirso, und auch Dir Frohe Ostern!