Schön, dass du da bist!

„Wie soll’s denn nun weitergehen?“ Gerald wischte notdürftig das Regenwasser von der Bank, setzte sich vorsichtig hin – solche Bewegungen bereiteten ihm immer noch Schmerzen – und ließ seinen Blick über die Außenalster schweifen, über seine Alster, die er immer wieder aufsuchte, um sich zu sammeln und seine Gedanken zu ordnen.
Es ging ihm besser. Er hatte es überstanden. Und das Leben – das Leben war schön, trotz alledem! Ein Lächeln liebevoller Erinnerung und des Stolzes glitt über sein Gesicht, als er an seine Frau Anna dachte: „Wir haben uns doch nie unterkriegen lassen, was, Anna!“, und ihr vertrautes Gesicht tauchte verlässlich wie immer vor ihm auf, um sein Lächeln zu erwidern, oh ja – das tat es! Wie viel Kraft war ihm aus diesem nie endenden Gespräch mit ihr schon zugewachsen. Ohne ihre Hilfe wäre er auch aus dieser Situation niemals herausgekommen, das war seine feste Überzeugung! Zehn Jahre lang lebte er jetzt schon allein, ohne sie, mit der er so viel erlebt und die gemeinsame bescheidene Existenz aufgebaut hatte: den kleinen Kiosk am Klosterstern.
Ja, das Leben war schön! Der tropfnasse weiße Flieder eben auf dem Weg … Anna hatte Flieder so geliebt … die allmählich abziehenden Regenwolken, das Blitzen einzelner Sonnenstrahlen hinter den Wolken her und ihre Reflexe auf dem Wasser – tief sog Gerald die frische Frühlingsluft in seine Lungen ein und empfand diesen Tag als einen Meilenstein, einen Neuanfang, als das Wunder eines neuerlichen Frühlings seines Lebens: Es würde weitergehen, wie auch immer, aber es würde weitergehen!
Es wurde ihm ganz leicht ums Herz bei diesem Gedanken, und am liebsten hätte er mit dieser Leichtigkeit die schwere, dunkle Wolke, die sich in den letzten Wochen über ihm ausgebreitet und ihn überall hin verfolgt hatte, am liebsten gleich all den Zweifel und die Furcht vor der Zukunft  vertrieben, die in dieser Frage laut wurden, diesem: „Wie soll’s denn weitergehen?“
Ganz so einfach war das aber dann doch wohl nicht, ‚Geduld, Geduld!‘, machte er sich selbst Mut, und blickte nach Beistand suchend hoch zu den Wolken, die ja auch nur allmählich das Blau des Himmels wieder freigaben.
Die Tat selbst erinnerte er nicht. Oder kaum. Ein paar schemenhafte Bilder, dass es ein Mann war, Teile seines Gesichts, das Klingeln der Ladentür, nicht einzuordnende Geräusche. Vielleicht war das aber alles auch von ihm nur phantasiert. Es war ihm ganz recht. Sollte es hinter dem Schleier des Vergessens verborgen bleiben, er wollte es gar nicht mehr sehen! Auch die Anfangszeit im Krankenhaus erinnerte er nur bruchstückhaft, zusammenhängend erst die letzten Wochen. Die Schmerzen, die er sicher gehabt hatte, all die Operationen, der ganze Überlebenskampf: keine Spur davon! ‚Gut so!‘ dachte Gerald, bemerkte aber, dass er von einer Art ständigem Abklopfen derjenigen Details, die er zu erinnern glaubte, nicht loskam, dass er versuchte, doch ein Bild aus ihnen zusammenzusetzen, vielleicht, ja, das konnte er sich vorstellen, vielleicht, um wenigstens einmal das  Gesicht des Mannes zu sehen, der ihn niedergestochen hatte.
Reflexhaft wollte Gerald von der Bank aufspringen und sich davonmachen, aber seine Hände umklammerten das Holz der Sitzfläche: ‚Nein, nein!‘, befahl er sich zu bleiben, ‚es ist alles gut! Da waren wir doch schon oft jetzt, das bringt uns nicht mehr auseinander, alles ist gut!‘, und er versuchte, sich wieder zu entspannen, lehnte sich zurück und blieb. Allmählich gelang es ihm, seine Gedanken zu lösen und in die ihn umgebende Natur zu lenken, zurück in die Wirklichkeit und in sein neu gewonnenes Zutrauen. Und doch war sie wieder da, die Frage, stellte er sie sich erneut: „Wie soll’s weitergehen“? Aber diesmal war etwas anders … es war die Formulierung … er hatte sich wörtlich gefragt: „Und? Wie soll’s jetzt weitergehen?“, und bekam sofort das Gefühl, dass mit dieser Formulierung etwas Spezielles verbunden war, eine Art Déjà-vu, er hatte das genau so schon einmal in einem ganz bestimmten Zusammenhang gehört!
„Und? Wie soll’s jetzt weitergehen?“ Es war, als klopfe die Frage von draußen heftig an die Fensterscheibe und er sitze drinnen und schaue sie an, nicht verstehend, was sie denn wolle. Aber das Klopfen ließ nicht nach, es ließ nicht nach. Und dann war sie einfach da, war ganz ruhig zu ihm gekommen – seine Erinnerung: Er, er selbst hatte diese Frage gestellt, genau so, in diesen Worten, hatte sie dem gestellt, der ihm unmittelbar daraufhin, wie als eine Antwort, das Messer mehrfach in Bauch und Lunge gerammt hatte. „Und? Wie soll’s jetzt weitergehen?“
Auch jetzt sah er nicht das Gesicht des Mannes vor sich, auch nicht eigentlich dessen Augen – er hätte nicht deren Farbe oder Form beschreiben können – es war vielmehr der Blick, das, was die Augen sprachen in diesem Moment, den er erinnerte. Nein, anders noch: es waren zwei ganz verschiedene Blicke, mal sah er den einen, mal den anderen, unvereinbar in dem, was sie meinten, und dennoch war sich Gerald absolut sicher, dass er beide gesehen hatte damals, ja, genau so, wie er es jetzt erinnerte: den einen Blick abgrundtiefen Hasses, als sich der junge Mann – war es ein junger Mann? – als sich der Mann auf ihn stürzte, ganz unvermittelt, mit einer ungeheuren Heftigkeit und absolut kompromisslos, nur noch eine Richtung kennend. Dann aber der andere Blick … der war vorher … da lag Zeit zwischen diesem und dem hasserfüllten Blick, da schien der Mann noch in einiger Entfernung von Gerald zu stehen, und ja: da hatte er ihm wohl gerade die Frage gestellt: „Und? Wie soll’s jetzt weitergehen?“
Unfassbar – dieser Blick – es war der Blick eines kleinen Jungen, der … einfach nur auf die Antwort wartete! Der wissen wollte, wie’s jetzt weitergehen soll. Der es von ihm, von Gerald, wissen wollte, in diesem Augenblick!
Gerald rang nach Atem und kämpfte gegen die aufkommende Angst an. Es gelang ihm noch einmal, zurückzugehen zu diesem Moment … und jetzt erinnerte er noch etwas Drittes: dass nämlich in ihm, in ihm, der diese Frage gestellt hatte, dass in ihm selbst keine Antwort gewesen war. Nicht in diesem Moment. Die Angst, die er jetzt verspürte, und die schon wieder dabei war, zu verrauchen, hatte ihn damals vollends ausgefüllt, bis in jede Zelle seines Körpers hinein. Da war kein Raum mehr gewesen für … ja, für was? Für eine ähnliche Antwort, wie er sie sich eben noch selbst hatte geben können? Dass es immer weitergehe, auch, wenn man nicht wisse, wie? Dieses Fünkchen Vertrauen, dass etwas Unverbrüchliches in ihm war, etwas Unzerstörbares, genau dieses Fünkchen war in ihm selbst – vielleicht nicht erloschen, aber jedenfalls verdeckt gewesen von der Angst, die ihn überflutet hatte, und er hatte diesem ersten, dem noch fragenden Blick, nicht antworten können. Und dann erst hatte der Hass auf seine Weise Antwort gegeben!
Nach und nach beruhigte sich Gerald wieder. Eine ganze Weile blieb er noch sitzen und stand schließlich auf, um langsam den Weg zurück nach Hause zu gehen. Der Gedanke, dass es vielleicht möglich gewesen wäre, dem Angriff anders zu begegnen, als er es getan hatte, ging ihm behutsam nach und holte ihn schließlich ein, ohne ihn im Geringsten zu beunruhigen, ganz im Gegenteil: er hatte etwas Tröstliches an sich, das er noch nicht recht fassen konnte. Er war in Angst gewesen damals, das war ja nun zu verständlich! Er war sich auch sicher: käme er erneut in eine ähnliche Situation, er würde wieder in Angst geraten, zumindest war das höchst wahrscheinlich! Nein, es war die bloße Möglichkeit, ohne Angst zu reagieren, die er deutlich sah und die ihn jetzt mit einem ungeheuren Mut erfüllte: ‚Es wäre möglich gewesen, ich hätte ihm antworten können, ich hätte ihm eine andere Tür zeigen können als die, die er als die einzig ihm noch verbleibende sah!‘ Es war, als lösten sich Ketten, die seine Füße gefesselt hatten, so erleichtert war Gerald allein von dem Gedanken an diese Alternative, so froh, ganz auf dem Grund seiner Seele froh: da war doch etwas nicht totzukriegen in ihm, etwas, das auch zwischen ihm und Anna zwar unausgesprochen geblieben, aber doch selbstverständlich gewesen und erst jetzt durch die Begegnung mit einem ihm völlig Unbekannten so bitter in Frage gestellt worden war: „Geht es weiter?“ ‚Es geht weiter, Anna, es geht immer weiter, und wir werden wohl von diesem wunderbaren Leben letztlich alle in dieselbe Richtung geführt, auch dieser Mann, der immer noch kein Gesicht hat für mich, und der jetzt irgendwo auf der Flucht ist!‘ Und Gerald blieb stehen und hob den Blick.
„Schön, dass du wieder da bist, endlich!“ Er stand, ohne dies bisher bemerkt zu haben, direkt vor seinem geschlossenen Kiosk, der ihn dunkel und traurig anblickte und wurde auch schon von den üppigen Armen der Bäckersfrau von nebenan empfangen, die außer sich vor Freude zu sein schien. „Wir haben dich alle so vermisst, Gerald! Wann machst Du endlich den Kiosk wieder auf!“
„Oh, Klara, ich freu‘ mich auch, danke, vielen Dank, aber den Kiosk, nein, also …  ich glaube nicht … das kann ich nicht mehr …“.
„Du machst wieder auf!“  Klara ließ nicht mit sich reden. „Glaubst du, wir lassen dich noch mal allein, wir passen alle auf dich auf!“
„Mir würde es erst mal reichen, wenn du mich zu einem Kaffee einlädst“ schmunzelte Gerald glücklich über so viel Freundlichkeit, „und was den Kiosk angeht, da muss ich erst Anna fragen!“
Und als er Arm in Arm mit Klara in Richtung Bäckerei ging, konnte er es doch nicht lassen, im Vorbeigehen kurz zu prüfen, ob sein Laden denn auch ordentlich abgeschlossenen sei.

*

13 Gedanken zu “Schön, dass du da bist!

      1. Lieber Michael,

        angesichts meiner eigenen Zwiespältigkeit, die ich in deinem Text wunderbar aufgehoben finde, kann ich nur sagen:

        Wann sollen wir denn sehen, dass etwas in uns immer ganz und unversehrt ist, wenn nicht im Angesicht des Zerbrochenen?

        Danke.

  1. So dicht, so nah, so intensiv geschrieben… Mir war, als müßte ich manches Mal die Luft anhalten beim Lesen.
    Es reicht manchmal ein einziger Text, um zu wissen, da will ich mehr von lesen und so erlaube ich mir ungefragt, Ihre Fährte aufzunehmen. Sehr erfreut grüßt herzlichst, Frau Knobloch.

    1. Liebe Frau Knobloch, es ist mir eine große Ehre! Muss ich Ihnen denn bei dieser Gelegenheit beichten, dass ich, wie schon von den Eintagessätzen der geschätzten Frau Maribey, auch von Ihrem bittemito-Blog und Ihren herrlichen Wortverdrechseleyen süchtig bis zur Therapiebedürftigkeit geworden bin!
      Also seien Sie herzlich willkommen und weiter: bittemitherz!

      1. Ich bitte Sie, lieber Herr Alltagsphilosph, eine zu therapierende Süchteley? Von mir aus dürfen Sie sich dieser Sucht gänzlichst hingeben, ich gelobe keine Nebenwirkungen und Risiken. Na gut, gelegentliche Hach- oder gar Lachanfälle können schon auftreten, aber das droht hier bei Ihnen ja wohl auch.

        1. Bei diesen durchaus beruhigenden Versprechungen kann ich nur sagen: gernst!
          Aber nu schau’n Sie mal da: Wenn Sie, was ich absolut gutheiße, auf Ihrem o bestehen, so darf ich mir doch die Freiheit nehmen, dies auch zu tun: Den Alltagsphilosophen bitte mit ebenso vielen o’s wie bei Knobloch, bittschön! 🙂

          1. Oh, Pardöngsche! Ich bin heute so flinkfingerkuppig unterwegs. O und o gesellt sich gern, deucht es mich. Ich reiche Ihnen flugs eins nach, Ihre Frau Knoblch, kurzzeitig mit ohne o.

            1. So ist das unerträglich für mich, werteste Frau Knobloch! Ich möchte auf keinen Fall auf Ihre Kosten mein o zurückerhalten! Wo kämen wir denn da hin! ich schlage vor, ein großes O zu teilen. Dann haben wir jeder ein kleines. O -kay?

              1. Mich deucht, Sie haben eine vernünftige und sehr sympathische Persönlichkeit. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie gnadenlos in meiner Lieblinksliste festzutackern. Ich verspreche ein nur leichtes Ziepen. Ihren Vorschlag nehme ich knicksfeindankend an und verbleibe somit als Ihre Frau Knobloch, wieder beotet.

                  1. Oh, ein wackerer Nonwumpernzicker! Ist eine rare Gattung. Daß es mir vergönnt ist, solch‘ einem seltenen Exemplar zu begegnen, das bestolzt mich schon ein wenig. Ich wünsche Ihnen einen Schönstabend und freue mich über die silbensilberne Bereicherung, die Sie zu sein scheinen. Herzlichst, Käthe Wiederdoppeltbeotknobloch.

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