Ohne zu zögern hat er sofort nach dem Anruf für den nächsten Tag einen Flug von Barcelona nach Hamburg gebucht. Zwei Monate zuvor ist er zuletzt hiergewesen und hat beim Umzug seiner Schwester ins Altenheim geholfen. Jetzt haben ihn seine beiden Nichten angerufen, um ihm zu berichten, dass ihre Mutter wohl den Lebenswillen verloren habe, sie spreche nicht mehr, man wisse nicht, ob sie überhaupt noch jemanden erkenne, im Heim nenne man sie jetzt „debil“. Und seit einigen Tagen habe sie auch keine Nahrung mehr zu sich genommen.
In Hamburg angekommen, begibt er sich auf dem kürzesten Weg zu ihr, seiner Schwester. Er war immer der schräge Vogel der Familie gewesen, seine Schwester diejenige, die ihn beschützt und verstanden hat. Bei ihr hat er sich alles erlauben können. Jetzt, kurz vor dem Altenheim, überfällt ihn die Ohnmacht: wie das zurückgeben, wie ihr helfen? Will sie wirklich gehen? Soll er die Töchter auffordern, mehr für ihre Mutter zu tun? Gibt es dieses „Mehr“? Er selbst lebt seit dreißig Jahren in Barcelona, hat dort seine Familie und hätte gar nicht die finanziellen Mittel, viel für seine Schwester zu tun. Was ist richtig? Wer soll das wissen? Was wird diese Begegnung sein, ein reiner Pflichtbesuch? Er spürt es anders, etwas zieht ihn mit Macht zu ihr, er weiß nicht, was. Bangend betritt er ihr Zimmer.
Es ist schlimmer, als er es sich vorgestellt hat, sie regt sich nicht, schaut ihn nicht an, erkennt ihn nicht. Er legt die Blumen auf den kleinen Tisch am Fenster, und dann spricht er eine halbe Stunde lang mit ihr, erzählt von sich, von seiner Familie, richtet Grüße aus. Dann die gemeinsam erlebte Kindheit: „Weißt du noch …?“
Nichts.
Sie reagiert überhaupt nicht. Sie erkennt nichts wieder. Sein Besuch war umsonst. So denkt er und bleibt noch zwei Stunden bei ihr sitzen, hält ihr die Hand, erzählt ab und zu noch etwas, und versinkt dabei zunehmend in ein erbärmliches Gefühl der Hoffnungslosigkeit.
Dann steht er auf, um zu gehen. Sie reagiert nicht. Er geht bis zur Tür. Und kehrt wieder um, setzt sich wieder hin. Es ist ihm etwas eingefallen.
Er beginnt zu singen, die alten Lieder, die man in der Familie gesungen hat: „Der Jäger aus Kurpfalz“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“, „Kein schöner Land“.
„… in dieser Zeit …“,
und da singt sie einfach mit: „… als hier das unsre weit und breit …“.
Sie blickt ihn an und da weiß er, warum er hergekommen ist.
„… Wo wir uns finden,
wohl unter Linden,
zur Abendzeit …“.
Später essen sie gemeinsam ein Leberwurstbrot. Es wird nicht viel gesprochen, und irgendwann merkt er, dass sie gerne wieder allein wäre und verabschiedet sich.
Ich treffe Klaus auf dem Weg zum Flughafen, er muss zurück. Die Unsicherheit bleibt, was aus seiner Schwester wird, aber seine Ohnmacht hat ihn verlassen.
„… Wo wir uns finden,
wohl unter Linden,
zur Abendzeit“.
*
berührend… schön…
Ja, fand ich auch. Beides.
Danke, Marion
Ganz herzlichen Dank für diese schöne trostreiche Geschichte, Michael!
Und ich danke dir, liebe Maren, für deine Worte! Ich empfand das auch als sehr starken Trost in einer äußerlich doch sehr traurigen Situation.