„Do you speak English?“, fragt er mich, sein Deutsch ist nicht besonders, und er will erzählen. Seine markanten Gesichtszüge, die davon sprechen, dass er in seinem Leben harte Entscheidungen getroffen hat, sind wie unterwandert von einer staunenden Milde, was seinem Antlitz etwas Geheimnisvolles gibt. Von Damaskus erzählt er zunächst, wo seine schöne Villa steht, „so ähnlich wie diese“, sagt er und zeigt stolz auf einen der prächtigen Altbauten, die den Hamburger Stadtteil Rotherbaum prägen. Lange war er jetzt schon nicht mehr in Syrien, „die Umstände sind nicht danach“. Hier wohnt er südlich der Elbe und verbringt dort jetzt den größten Teil seiner Zeit, auch wenn er trotz seiner zweiundsiebzig Jahre noch immer regelmäßig in sein Moskauer Büro fliegt. Und das, obgleich er dreimal in der Woche zur Dialyse muss, seine Nieren versagen ihm seit einem Jahr ihren Dienst.
„Die Krankenhäuser in Hamburg und in Moskau kooperieren“, sagt er, wiederum mit einer ordentlichen Prise Stolz, „um mir das Weiterarbeiten zu ermöglichen“. „Cooperation“ und „Communication“ sind seine Wörter, und sie sind ihm wichtig. Man hat sich sehr bemüht, herauszufinden, warum er seit der letzten Dialyse plötzlich starke Dauerschmerzen in den Muskeln und den Knochen hat, bisher ohne Erfolg, „aber sie werden es herausfinden“, meint er und holt tief Luft.
„Excuse me“, das wird er noch oft sagen, wenn er eine kleine Erzählpause macht und dann fortfahren will. Es wird ein Abriss seines Lebens und seiner Einschätzungen der Machtverhältnisse dieser Welt und man merkt: er hat eine Menge gesehen und erlebt. „Cooperation“ und „Communication“ sind die Eckpfeiler seines Glaubens an unsere Fähigkeit, in Frieden miteinander zu leben.
Syrien, Russland, die Ukraine, Putin, die Flüchtlinge, er holt weit aus. Und natürlich „Amerika“, wie er sagt, er sei nicht „anti“, aber er wolle Antworten auf seine Fragen.
Und dann macht er eine längere Pause. Und sein „excuse me“, bevor er zum letzten Teil seiner Erzählung kommt, klingt anders, es weint fast.
Er ist im Irak geboren. Von der Hochzeit erzählt er, die in der Nähe seines Heimatdorfes gefeiert werden sollte. Man habe Zelte errichtet, drei Tage und Nächte ein rauschendes Fest gefeiert und dabei auch, wie es der Brauch sei, in die Luft geschossen, Freudenfeuer.
„Sechshundert Menschen“, sagt er tonlos, „mussten sterben, als das Areal gezielt bombardiert wurde“.
„Excuse me, how can wie love them?“ fragt er und schaut mich an. Es ist die Frage eines Menschen, dessen Leben fast buchstäblich an seidenem Faden hängt und der mit dieser Frage nicht eine negative Antwort geben will, sondern ohnmächtig nach seinem eigenen Ausweg sucht. Ist da noch ein Weg? Die Milde hinter seinen harten Gesichtszügen spricht von einem „Yes“. Auch wenn es zögert.
*
Es ist erstaunlich, wieviel Milde manche Menschen allem Grauen zum Trotz bewahren können…
Ja, das ist wirklich erstaunlich! Bei diesem bemerkenswerten Herrn hatte ich das deutliche Gefühl, dass seine Erfahrungen, wie man in den Krankenhäusern ihm und seiner lebensbedrohenden Erkrankung begegnet ist, eine große Rolle gespielt hat. Welche Antwort gibt man der dunklen Seite des Lebens?
Ich glaube, dir können Menschen gut ihr Leben erzählen. Nein, glaube ich nicht, da bin ich mir sicher. Vielleicht spüren sie, dass in dir dieses Yes wohnt. Und du ihnen zuhörst. Verstehst. Auch das, was hinter den Worten lebt.
Das „Yes“, es hat es mir wirklich angetan. Es findet sich genau da, wo wir unsere „No’s“ aufgetürmt haben und hartnäckig an sie glauben. Immer an der tiefsten Stelle ist dieses „Yes“, bei jedem, immer. Als sei es unser eigentliches und einziges Gen. Für mich ist es ein großes Abenteuer, anderen Menschen und auch mir selbst so zuzuhören.
Vielen Dank für Deine Worte, Marion, das freut mich sehr, was du sagst. Excuse me!
Michael
Das ist wunderbar, dieses Yes zu sehen, auch wenn es sich manchmal zu verstecken scheint. Dieses Gen sollte in alle Schul- und Biologiebücher mit aufgenommen werden! Gut, dass du an dieses Gen erinnerst und an das Abenteuer, einander zuzuhören, sich zuzuhören und wie du weiter unter so schön schreibst, den Baum wachsen zu lassen.
Du verteilst guten Dünger dazu!
„Welche Antwort gibt man der dunklen Seite des Lebens?“, wie oft habe ich mich das schon gefragt, lieber Michael. Und mit jedem Abgrund, in den man blickt, scheint die Antwort immer geröllig schwerer zu fallen. Ich stammele rum, salbaderer sinnlos erscheinende Floskeln, da schreiben Sie schon weiter in den Kommentaren: „Immer an der tiefsten Stelle ist dieses “Yes”, bei jedem, immer. Als sei es unser eigentliches und einziges Gen.“ und plötzlich leuchtet ein Licht, wo die Dunkelheit am dichtesten ist. Mögen die Lichter in uns drinnen nie verlöschen und die Schatten bannen.
Ich grüße Sie und die Kommentatorinnen herzlich dankend, Ihre Käthe.
Ich freu‘ mich sehr über Ihre Worte, Käthe!
Das ist ja sozusagen meine Passion, dieses „Yes“. Es braucht die Bereitschaft, ihm Kredit einzuräumen, denn auf den ersten Blick sehen wir’s ja selten, auch auf den zweiten und dritten, und oft überhaupt nicht. FLüchtlinge ersticken in LKWs, wo ist da das „Yes“? Aber durch diese Bereitschaft sammeln sich Erfahrungen an, die wachsen wie ein Baum. Und dann braucht es Ehrlichkeit: wenn ich’s nicht sehe, seh‘ ich’s nicht! Es gibt eine nächste Gelegenheit. So ein Gespräch wie gestern mit dem alten Iraker war eine Erfahrung. Da hab‘ ich es gesehen. Mein Baum ist ein Stück gewachsen.
Herzliche Grüße
Ihr Michael