Kirchgang

Wir kennen uns nur flüchtig, und er wäre sicher mit einem kurzen Gruß an mir vorübergegangen, wenn ich ihn nicht staunend ob seines edlen Sonntagsoutfits angeschaut hätte. So bleibt er kurz stehen und erklärt sich:
„Ich muss in die Kirche da hinten, Kindstaufe, kleine Familienfeier“, sagt er in einem Ton, der mir eindringlich vermitteln soll, dass er kein gewohnheitsmäßiger Kirchgänger sei, was ihm offensichtlich wichtig ist, klarzustellen.
„Ah!, ja dann wünsch‘ ich einen schönen Tag!“, antworte ich meinerseits in Tonfall und Gestik Verständnis bekundend für das Potenzial der Situation, in dieser Hinsicht Missverständnisse hervorbringen zu können.
Er hebt schon die Hand zum Gruß, um weiterzugehen, hält dann aber inne, nimmt die Hand wieder herunter und blickt zu Boden:
„Vielleicht“ sagt er jetzt mit einer ganz anderen Intensität, „vielleicht kann ich das aber auch nutzen, um zu beten …“ – ich weiß nicht, ob es die Überraschung ist, dieses Wort von ihm zu hören, oder ob ich wirklich … jedenfalls kommt es mir so vor, als habe ich noch nie jemanden derart bedeutungsvoll das Wort „beten“ aussprechen hören – „meine Frau will sich von mir trennen, sie will sich scheiden lassen!“
Jetzt schaut er mir mitten ins Gesicht, und da ist nur nackte Offenheit, nichts sonst: ‚Ich weiß nichts mehr, sag‘ Du!‘

Was ist „Beten“ anderes als das! Am Ende des eigenen Begreifens nach einem Raum zu suchen, in dem wieder Antwort ist.
Für einen Moment sind wir beide in der Kirche, sozusagen, ich nicht weniger als er, im prächtigsten Dom dieser Welt: im Erkanntwerden und Wohlwollen eines anderen Menschen.

*

11 Gedanken zu “Kirchgang

    1. Den Religionen würde es vielleicht ganz guttun, sich ab und zu daran zu erinnern, worauf ihre Worte, Bilder und Rituale eigentlich weisen. Es ist schon heikel, solche Worte wie „Kirche“ und „beten“ schreibend zu benutzen, weil sie aufgeblasen von einer Unzahl von lebensfeindlichen Assoziationen und ausgequetscht von Missverständnissen halbtot herumliegen und ihres symbolischen Charakters und mystischen Zaubers beraubt sind.

      Es freut mich um so mehr, wenn die Erzählung gefallen hat. Vielen Dank, Maren!

  1. Diese Geschichte hat mich sehr angerührt, ganz besonders die feine, spontane zwischenmenschgöttliche ÖFFNUNG und auch Deine Definition von „Beten“:
    „Was ist „Beten“ anderes als das! Am Ende des eigenen Begreifens nach einem Raum zu suchen, in dem wieder Antwort ist.“
    Herzensdank, lieber Michael, für diese wohltuende Erinnerung!

    1. Und ich danke dir von Herzen für deine Worte. Sie sind oft flüchtig, diese Momente, und werden schnell wieder ins Alltägliche eingeordnet. Aber wenn man wirklich hinschaut: sie sprechen in der Tat vom „Zwischenmenschlichgöttlichen“, von einem viel tieferen Verbundensein, als wir das je herstellen könnten. Es IST einfach.

      Danke, Ulrike!

      Michael

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