Engelskuss

Sie lacht immer noch, als sie an mir vorbeikommt. Immerhin sind es mindestens fünfzig Meter vom Ausgang der U-Bahn bis hierher, und mach‘ das mal: über fünfzig Meter ein fröhliches Lachen beibehalten!
Sie ist schon gut gelaunt die Treppen hochgekommen und mit ihren wehenden blonden Haaren an dem Bettler vorbeigestürmt, der auf der obersten Stufe sitzt und seinen Pappbecher hinhält. Nach ein paar Metern aber hat sie sich umgedreht und ist zurückgegangen, hat ihm etwas in seinen Becher hineingeworfen und ihm freundlich zugenickt. Der Bettler hat seinen Flachmann nur kurz abgesetzt, soweit ich gesehen habe, nichts weiter gesagt, und auch gleich wieder die Nähe seines flüssigen Freundes gesucht.
Seitdem lacht sie, wie alt wird sie sein? Fünfundzwanzig vielleicht. Und besteht im Moment grob geschätzt zu hundert Prozent aus Lebensfreude. Ein beruhigtes schlechtes Gewissen kann  auch mal lachen, denk‘ ich, als sie an mir vorbeikommt, aber das sieht anders aus! Es ist ihr die Freude einfach übergeflossen, und auch wenn der Bettler jetzt eine Miene macht, als habe er außer dem Geräusch der Münze, als sie in seinen Becher fällt, nichts weiter bemerkt, ist er doch wehrlos gegen diesen Überfluss, die Ungeschminktheit der jungen Frau hat seine Wand durchbrochen … ich kann es sehen, mit welchem Auge auch immer, ich sehe es ihm an, auch auf fünfzig Meter Distanz! So schnell kann eben kein Flachmann sein, einen Engelskuss zu verhindern!

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3 Gedanken zu “Engelskuss

  1. Hach, wie wunderbar du wieder wahrnimmst und das Erlebte in Worte kleiden kannst. Es ist, als sehe ich es vor mir, die hundert Prozent Lebensfreude und die Spuren des Engelskuss.

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