Ein Herz und zwei Seelen

Es sind nur rund dreißig Meter von der Bushaltestelle bis zur Musikhalle, aber die haben es in sich! Luise und Martha, beide so um die zwölfundsiebzig, schicken sich an, kurz vor dem zu erwartenden Musikgenuss – Brahms, Beethoven, Tschaikowski – eben noch die letzten Fragen zu klären. Gut gelaunt sind sie dem Bus entstiegen und haben dabei ein Lächeln auf die Gesichter der anderen Fahrgäste gezaubert,  indem sie sich an der Tür aus lauter Höflichkeit erst nach zähen Verhandlungen haben einigen können, wer als Erste den Bus verlassen dürfe  und die schließlich derart ermittelte Inhaberin dieses Vorrechts sofort nach Kontakt mit Mutter Erde der Nachkommenden galant die Hand gereicht hat, um ihr bei der Überwindung des nicht unerheblichen Höhenunterschiedes zwischen der letzten Stufe und dem Gehweg eine Stütze zu sein.

Während der Bus sich mit einem kleinen Ruck wieder in Bewegung setzt, der ausreicht, das Lächeln auf den meisten Gesichtern wieder in Vergessenheit geraten zu lassen, haben sich die beiden Damen beieinander eingehakt und nehmen ihrerseits langsam Fahrt auf in Richtung Musikhalle.
„Es war hochinteressant“, knüpft Martha, noch ganz entzückt über die Handreichung ihrer Freundin, an ein Gespräch an, das wohl schon im Bus begonnen worden ist:
„Ein richtiger Professor! Man weiß das ja alles gar nicht! Leider, leider hab‘ ich meine Hörgeräte nicht so schnell gefunden …“
„Oh, das kenn‘ ich!“, tröstet sie Luise, „es läuft gerade was Interessantes und du kriegst nur die Hälfte mit, weil du die Dinger wieder mal irgendwo hingelegt hast … war das im NDR?“
„NDR Kultur, in der Reihe: ‚Glaube in unserer Zeit‘, und das Thema war: ‚Was ist die Seele?“
„Ohhh, die Seele“, Luise schaut sinnierend nach oben, lässt aber dann offen, was sie selbst von einer solch schwer zu fassenden Sache wie der Seele halten möchte: „Und was meint der Professor dazu?“, fragt sie ihre Freundin, ganz offensichtlich froh über die Möglichkeit, zunächst die angekündigte Meinung des Radioprofessors einfordern zu können, auf die sie ja dann gegebenfalls reagieren könnte.
„Also wie gesagt, ich hab‘ ja nur die Hälfte verstanden, aber die Seele scheint ganz unabhängig von den Genen zu sein, aus einem Zusammenspiel von Erziehung, Umwelteinflüssen und so zu entstehen“, meint Martha, etwas unglücklich über ihre Unfähigkeit, den Radiobeitrag nicht packender zusammenfassen zu können. Es entsteht so etwas wie ein leichtes Vakuum zwischen den beiden, in das aber jetzt für Luise eine glasklare Definition der Seele einzuströmen scheint:
„Also an eine Seele an sich … glaub‘ ich ja nicht“, sagt sie, um die Sache gleich mal im Wesentlichen einzugrenzen, „für mich ist die Seele das Miteinander von Gehirnzellprozessen und den Hormonen!“, meint sie, sehr entschieden jetzt, und Martha, ständig nach weiteren Details aus der Radiosendung kramend, erinnert sich:
„Auf jeden Fall ist sie angeblich sehr leicht zu beeinflussen!“
„Genau“, antwortet Luise, „mit Tabletten!“

Man hat sowieso gerade die Hälfte des zurückzulegenden Weges geschafft, aber auch ohne diesen äußeren Grund für eine kleine Verschnaufpause wäre Martha wahrscheinlich stehengeblieben, denn die letzte Bemerkung ihrer Freundin stürzt sie in wahre Verzweiflung, geht doch damit das Gespräch in eine Richtung, die ihr zu der Essenz der leider von ihr nur unvollständig rekapitulierbaren Radiosendung gegenläufig zu sein scheint.
„Luise!, nein!!, nicht mit Tabletten, mit guten Gedanken!!“, ruft sie geradezu aus, und man sieht ihr die Freude darüber an, dass ihr gerade zu rechten Zeit doch noch ein wesentliches Detail des Vortrags ins Gedächtnis gekommen ist: genau das hat er gesagt, der Herr Professor: „mit guten Gedanken“!

Luise lässt sich natürlich nicht so leicht von ihrer Position verdrängen, und während die beiden langsam weitergehen, schüttelt sie nachdenklich den Kopf:
„Also nein, gute Gedanken …. das ist ja schon fast mystisch … ich kann nur sagen, dass meine Seele auf eine kleine Schlaftablette abends bestens reagiert.“
Die arme Martha schwankt zwischen dem Stolz, eine wesentliche Aussage des Vortrags erinnert zu haben und der Faszination über die schlichte, aber ihr höchst einleuchtend erscheinende Position Luises, vor allem aber über die Beweiskraft chemischer Beeinflussung, die ja wohl nicht zu leugnen ist, und holt aus dem hintersten Winkel ihres Wissens über physiologische Zusammenhänge ein Faktum heraus, von dem sie sich verspricht, wieder auf Augenhöhe mit Luise zu kommen:
„Aber wenn du gute Gedanken hast“, sagt sie doch etwas tonlos, „dann wird ja auch z.B. Serotonin ausgeschüttet.“
Aber da ist nichts mehr zu machen, in Luises Gesicht spiegelt sich das Summa summarum des Gesprächs: Serotonin ist o.k., aber die Schlaftablette ist zuverlässiger!

Die beiden scheinen mir noch ein wenig näher zusammengerückt zu sein, als sie den Eingang der Musikhalle erreichen, und jetzt ist es natürlich Luise, die Martha die Tür aufhält und sie als Erste durchgehen lässt. Und dann tauchen sie ein in die Welt dreier Meister der Seelendurchflutung und rezeptfreien Serotoninspiegelerhöhung, und wer weiß, ob der Professor auch nur die leiseste Ahnung davon hat, wie sehr sich bewahrheitet, was er sagt, und dass auch scheinbar sich ausschließende Standpunkte, wenn sie einen kleinen Umweg übers Herz machen, ein und dasselbe meinen können: „Du tust mir gut, schön, dass du da bist!“

*

6 Gedanken zu “Ein Herz und zwei Seelen

  1. Lieber Michael,

    Ihre feinantennigen Alltagsbeobachtungen tun mir gut, schön, daß ich dasein durfte. Dasein, dabeisein, deinsein…

    Lächelnde Grüße in die Dunkeldämmerung, die herzwärts nicht lichter erscheinen könnte, Ihre Käthe.

    1. Wenn nicht, gab es auf dem Rückweg sicher ein wunderbares Gespräch über die verschiedenen Aspekte des doch noch Gehörten. Und Beethoven hat ja eh im Alter beim Komponieren mehr und mehr auf die hohen Töne verzichtet, die braucht ja auch kein Mensch …. 😉
      Vielen Dank, Maren!

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