Adrian war nicht an der gewaltigen Aura von Traurigkeit vorbeigekommen, die von der gramgebeugten Gestalt ausging und den ganzen Park auszufüllen schien, und hatte sich einfach neben die kleine, schlicht gekleidete Frau auf die Bank gesetzt. An dem weißen Kragen, dem Kollar, das er trug, konnte man ihn als Priester erkennen. Ganz jung war er nicht mehr, im letzten Jahr hatte er seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. Aber seine Augen waren hellwach, und freundlich hatte er sie auf die Frau gerichtet, während ihn eine Art abwartender Aufmerksamkeit umgab, in die nach und nach die Traurigkeit, die seine Banknachbarin eben noch ausweglos umstellt hatte, wie einzuströmen schien, um einer namenlosen Nähe Platz zu machen.
Ohne dass sie noch ein Wort gesprochen hatten, war zwischen beiden schon reges Gespräch. In der rechten Hand hielt die vielleicht vierzigjährige Frau ein kleines, silbernes Kreuz, das sie behutsam in ihren Fingern hin- und herwendete und von dem ein Funkeln auszugehen schien – oder eher waren es wohl die Bewegungen ihrer Hand und ihrer Finger, die im Kontrast zu ihrem eingesunkenen, düsteren Habitus voller Zartgefühl von Vertrautheit und Dankbarkeit sprachen und damit dieses Funkeln hervorgebracht haben mochten.
Hierhin hatte Adrian seinen Blick gerichtet, als er sie schließlich ansprach: „Was bedeutet Ihnen das Kreuz?“, fragte er aufblickend und der Frau jetzt in die Augen schauend.
„Ich bin krank. Sie haben es mir gerade gesagt. Im letzten Jahr erst hab‘ ich meinen Mann verloren, er ist auf einer Bergtour abgestürzt. Und jetzt bin ich dran. Gibt wohl keinen Zweifel, sieht schlecht aus.“
Adrian wandte den Blick von ihr ab, lehnte sich zurück und schaute mit ungebrochener Aufmerksamkeit in die Kronen der Bäume, in die gerade ein Hauch von Grün eingezogen war. Eine ganze Weile schwiegen sie, als sei alles schon gesagt. Wie zwei Vertraute saßen sie da, und obgleich zwischen ihnen ein guter Meter Abstand war, schien es, als lehnten sich ihre Schultern aneinander an.
Schließlich ergriff Adrian wieder das Wort: „Viele wenden sich gerade deshalb vom Christentum ab, weil sie ihm vorwerfen, ein Folterinstrument als zentrales Symbol zu verwenden.“
„Die verstehen nichts“, antwortete die Frau neben ihm leise, „aber ich glaube nicht, dass ich die richtigen Worte habe“.
„Sie haben das Kreuz verstanden, nicht wahr?“, fragte er zurück, und es war ganz offensichtlich, dass er ihr keine Predigt halten wollte, sondern aufrichtig daran interessiert war, wie sie dachte.
„Ja, das Kreuz habe ich verstanden. Es hat Ihn nicht töten können“, hörte er sie sagen und atmete tief auf, erleichtert, sich nicht in dieser äußerlich so unscheinbaren Frau getäuscht zu haben. Ganz offensichtlich sprach sie nicht von dem, was die Kirche verstand und vermittelte, sondern von ihrem eigenen Erleben. Und sie sprach von Ihm, von Jesus.
„Obgleich er gestorben ist“, fragend, fast provozierend sah er seine Nachbarin an.
„Sein Körper ist gestorben, ja.“
Adrian lehnte sich wieder zurück und schwieg. Auf seinem Gesicht lagen die Schatten der langen Geschichte seines Werdeganges. Nicht ohne Wehmut dachte er an die Begeisterung, die ihn damals ins Priesterseminar geführt hatte. Dann aber waren die Hierarchien, Machtgelüste, weltfremden Rituale und Dogmen der Kirche sein Alltag geworden, und nur mit großer Mühe hatte er sich von dem erstickenden Denken im Umgang mit dem Mythos freihalten können, den für ihn die Sprache des Christentums gemeinsam mit ihren Bildern und Ritualen bildeten und der nur höchst selten und nur von Einzelnen überhaupt als solcher wahrgenommen wurde. Für seinen nach Freiheit hungernden Geist war das oft zur Quelle furchtbarer Qualen geworden. Sein Bedürfnis war es immer gewesen, das Gemeinsame mit anderen Religionen und spirituellen Traditionen zu sehen, sozusagen den Pfeil überall zu entdecken, der auf den einen Mittelpunkt zeigte, aber in einer Kirche mit tief verwurzeltem Alleinanspruch auf die Wahrheit fühlte er sich damit einigermaßen allein.
„Wissen Sie“, begann er wieder zu sprechen, „Ich bin nur wegen Ihm in der Kirche. Zu Jesus hab‘ ich eine Art familiäres Verhältnis, Er ist wie ein großer Bruder für mich. Ich hab‘ schon als Kind fest daran geglaubt, dass es für uns alle nur eine Wahrheit geben kann. Und daran glaube ich noch immer, das IST mein Glaube! Und so hab‘ ich Ihn auch verstanden!“
„Es war auch ein Kind, das mir dieses Kreuz hier geschenkt hat, als das mit meinem Mann passiert ist … lächelnd hielt die Frau Adrian das kleine Silberkreuz hin, der es behutsam in die Hand nahm. „Meine Nichte, sie ist erst acht, es war ihr eigenes, sie hat es mir einfach so gegeben … da hat sich etwas getan in mir in diesem Moment, da hat sich was verschoben … auch wenn‘ s komisch klingt: seitdem ist in mir diese Ahnung, was das ist: die eine Wahrheit.“
Adrian wendete nun seinerseits das Kreuz in seiner Hand hin und her, und es war ihm, als könne er in der einfachen Struktur und der kühlen, glatten Oberfläche all das Feingefühl und die Liebe dieses Kindes spüren.
„Es hilft mir, mich zu erinnern, an das Gute, an mein eigentliches Leben. Wissen Sie, das mit der Krankheit, das werde ich einigermaßen verkraften. Aber da ist noch mehr. Ich bin in den letzten Wochen im Internet in etwas hineingeraten, das sie Shitstorm nennen. Es war nur ein kurzer Kommentar von mir in einem Blog, der das ausgelöst hat – sie haben mich geschlachtet. Sie haben meine Worte aus dem Zusammenhang gerissen und willkürlich verdreht, nur um mich weiter angreifen zu können, und es hat kein Ende genommen. Anfangs hab‘ ich noch versucht, mich zu erklären und Verdrehtes richtigzustellen. Viel zu spät erst hab‘ ich gemerkt, dass sie nur noch töten wollten, sie haben jede meiner Bewegungen einfach als Angriff definiert, auf den man schießen darf und sie haben immer auf mein Innerstes, mein Vertrauen in mich selbst gezielt. Ich bin vogelfrei für sie gewesen. Das ist … ich bin fast in Angststarre verfallen. Es sind auch viele dabei gewesen, mit denen ich mich schon länger austausche, die Intimes von mir kennen. Alles ist gegen mich geschleudert worden, das hat sich dann vollkommen verselbständigt und leider weit herumgesprochen. Meine Nachbarn und Arbeitskollegen wissen auch davon. Es ist die Katastrophe. Die ausgesprochenen Bosheiten stehen im Raum, für niemanden mehr ist zu erkennen, ob und wie ich sie mir in irgend einer Weise verdient habe. Wenn ich das über einen anderen lesen würde, ich glaub‘ nicht, dass ich mich dem entziehen könnte: da muss ja was dran sein! Ich bin geteert, gefedert und vor die Stadttore gejagt worden! Und damit komm‘ ich nicht zurecht, das geht mir an die Substanz, ich hab‘ kaum noch Boden unter den Füßen!“
Während sie von diesen Vorkommnissen erzählte, schien die kleine Frau noch ein wenig mehr in sich zusammenzusinken, jetzt aber richtete sie sich etwas auf, als sie sagte:
„Und wissen Sie, was das Schlimmste ist: es ist mir klar, dass ich nicht unbeteiligt bin an dem Ganzen. Ich kann zu dem Kommentar stehen, es war eben meine Meinung zu einem gesellschaftlichen Thema, aber trotzdem war es lieblos, es war sogar gnadenlos und jedenfalls ohne jeden Raum für Vergebung, was ich da gesagt habe. Klingt komisch, nicht? Aber es ist wohl schon so, dass man die Dinge, die einem passieren, anzieht, finden Sie nicht auch?“
Adrian antwortete nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Die Tür zwischen ihm und dieser Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, stand sperrangelweit offen, alles was sie sagte, kam in gewisser Weise auch aus seinen Gedanken.
„Ich hab‘ überhaupt ziemlich viel falsch gemacht in meinem Leben!“, hörte er sie weitersprechen, „wir kreuzigen uns ja jeden Tag gegenseitig, wenn wir uns anfeinden und die Schuld immer beim anderen suchen und dafür unsere tausend Gründe finden … Es ist doch grotesk: das einzige, was nie in uns sterben kann, nageln wir ans Kreuz. Aus Angst. Es ist nur Angst. Aber genau damit sind wir ohne Liebe – nein, so kann man das natürlich auch nicht sagen … nicht ohne Liebe, das geht nicht … sie ist ja weiter da, aber wir glauben das dann nicht mehr … das ist das eigentliche Kreuz!“
Für einen Moment vertiefte sich die Traurigkeit wieder über ihrem Gesicht, sie zögerte, bevor sie, leise geworden, sagte: „Und wir werden krank, wie ich, weil wir an diesem scheinbaren Verlust verzweifeln. Ich kann mich nicht ausschließen. Mein Glaube ist da, aber er ist nicht sehr stark. Jesus war stark, Er hat den Glauben an die Liebe nicht aufgegeben, das spür‘ ich, Er ist im Leben geblieben! Das Kreuz hat ihm nichts anhaben können, Er hatte Vergebung als Antwort auf Gewalt. Gewalt ist nur Vergessen. Und das da, dieses kleine Geschenk von meiner Nichte, das erinnert mich. Die Liebe ist immer da. Für uns alle.“ Zögerlich, aber doch mit einer deutlichen Bitte zeigte sie jetzt auf das Silberkreuz, das ihr Adrian vorsichtig wieder in ihre Hand zurücklegte, wie einen großen Schatz.
„Was ist unsere Substanz, was ist unser Boden, was sind wir? … Kannst du dir vorstellen, dass wir beide in diesem Moment gar nicht krank sein können?“, Adrian hätte nicht sagen können, woher ihm diese Frage gekommen war, und auch nicht, was ihn dazu bewegte, plötzlich „du“ zu sagen, völlig unvermittelt sprach er aus, was ihm in den Sinn kam, und er blickte der Frau, die ihm jetzt viel größer und wie von einem weiten, offenen Athem umgeben vorkam, in ihr wieder hell werdendes Gesicht, das ihn und seine erstaunliche Frage in sich aufnahm, und das sich weiter öffnete und weiter und zur Antwort wurde, und als wolle er die letzten Schatten fragender Traurigkeit aus dem kleinen Park lösen, fegte ein kleiner Windstoß durch die Kronen der Bäume, deren junges Grün die letzte Starre des Winters abschüttelte und sein Einverständnis flüsterte.
*
Ich habe deine Geschichte gleich zweimal gelesen, da so viel in diesen Zeilen wohnt. Dein Bild zeigte schon, was ich auch in dieser Geschichte lese, bei all den Kreuzen um uns herum, möchte ich nicht aufhören, an die Liebe zu glauben die sich immer wieder zeigt. Solch eine Begegnung auf der Parkbank, ein Kind, das ein wertvolles Geschenk reicht, ein Windstoß, der uns zuflüstert, die Welt ist voll davon.
Das freut mich wirklich sehr, Marion, was du sagst.
Wirklich verstanden, oder vielleicht kann man sagen: übersetzt, ist das „Kreuz“ die Kreuzung, an der wir uns alle treffen, vollkommen unabhängig von den Worten, die wir darum machen oder einem speziellen „Weg“, den wir hilfsweise gehen, wenn wir unsere blinden Flecke vor dem inneren Auge kurieren wollen, das immer nur eins sieht: Der Treffpunkt ist für uns alle derselbe, und das ist der gegenwärtige Augenblick der Liebe.
Ein schönes Osterfest wünsch ich Dir und Euch und uns allen,
Michael
Die Kreuzung, an der wir uns alle treffen, ja, diesen Ort gibt es, das glaube ich mit dir, egal, aus welcher Richtung wir angereist sind und was im Gepäck dabei ist. Du beschreibst es schön mit der gegenwärtigen Liebe.
Dir und euch wünsche ich auch friedvolle helle Ostertage.
Michael! Sie können in Herzgründe schauen, ohne den manchmaligen Umweg über die Pupillen zu nehmen.
Gestrig zu konfus zum floralkreieren, nahm ich den heutigen passlich stillen Tag und arbeitete gedankenvoll vor mich hin. Hatte Gäste, die nur selbst genauso wortlos pausieren wollten und bin nun fast fertig mit meiner Häkchenmacherei in der Bestellkladde. Pausiere immer wieder, um die Gedanken in eine Wortform fließen zu lassen… und lande statt dessen hier augenwassernd an.
Wir sind nie ohne Liebe. Das nehme ich mir dankbar an.
Und hinterlasse hier ein ebenso volles Danke.
Ihre Käthe, blumentrostscheinend.
Manchmal sind Pausen, in denen man einfach hin und wieder ein Häkchen hinter Erledigtes macht, genau das Richtige, um die Kräfte sich wieder sammeln und den Worten ihre Form geben zu lassen. Das Ergebnis kann man ja bereits in der Quellmusik Ihrer Flatterzartfraktalfabulierfrönerey bestaunen!
Ein schönes Osterfest wünsch‘ ich Ihnen,
Ihr Michael
Das wünsche ich Ihnen auch, mein Lieber.
Ihre Käthe aus dem lieblichen Lipperlandien.