Jenseits des Schmerzes

Wäre alles nach meinem Plan gelaufen, so hätte ich in erprobter Routine an der Tür geklingelt, neben der überraschenderweise auch in diesem Jahr wieder das strahlend-weiße und blankpolierte Zahnarztpraxenschild hing, hätte diesen kleinen Moment grenzenloser Selbstbestimmtheit noch genossen, bis die Antwort des Türsummers meine Autonomie relativiert hätte, wäre tapfer eingetreten und die Treppen zur Praxis hochgestiegen, hätte mich angemeldet und mich dann für mindestens jene zehn Minuten ins Wartezimmer gesetzt, welche ich zu diesem ganz speziellen Rendezvous gewohnheitsmäßig zu früh erschien, um mich noch in aller Ruhe ein Weilchen dem Durchblättern von Zeitschriften und dem leisen Klappern meiner Zähne überlassen zu können, bevor ich sie einem mir nur halbwegs vertrauten Mitmenschen ausliefern würde, dessen blinkendes und blitzendes Waffenarsenal auch dieses Mal keinen Zweifel daran aufkommen lassen würde, wer hier für die  Zeit des Beisammenseins das unbedingte Sagen hätte.

Das Schicksal aber musste diesen Extrazeitraum wohl als Einladung missverstanden haben und sah etwas ganz anderes für mich und meine zehn Minuten vor.

Man muss einen kleinen Vorgarten durchqueren, um zur Haustüre zu gelangen, und schon an der Gartenpforte stürmte ein schlanker, großgewachsener Mann in Handwerkerkleidung, hektisch gestikulierend und aufgeregt in sein Handy hineinsprechend an mir vorbei, flog geradezu ins Innere des Gebäudes, ohne an jener Tür geklingelt zu haben, die nun vor meiner Nase wieder zuschlug und mich nötigte, besagten Klingelknopf zu drücken. Schon hier war ich deutlich aus meiner Routine hinausgefallen, denn statt den Augenblick, bis die Tür geöffnet würde, wie sonst zu genießen, füllte ich ihn mit fruchtlosen Überlegungen zu der Frage, wie es denn sein könne, dass diesem telefonierenden Wirbelsturm da eben das Klingeln und Warten erspart geblieben war.
Türsummer von Zahnarztpraxen – oder vielleicht gilt das nur für diesen speziellen – haben meiner Ansicht nach einen ganz bestimmten Klang, und so fühlte ich mich, als ich in das Summen hinein die Tür aufdrückte und das Gebäude betrat, auch diesmal von einer keimfreien Strenge umgeben, die die Aufforderung  enthielt, mich noch vor jedem anderen Gedanken zu vergewissern, ob ich meine Krankenkarte dabei hätte, ohne die man mich hier überhaupt nicht als existent wahrnehmen könne.

Ich begann schon, in meinen Taschen zu kramen, als von oben ein lautes Poltern hörbar wurde: der Wirbelsturm von eben stürmte bereits wieder die Treppen hinunter, wahrscheinlich hatte er seine Probleme in einem Zeitloch gelöst, anders war das irgendwie schon nicht mehr zu erklären. Jetzt aber wurde er von einem etwa sechzigjährigen Mann aufgehalten, der sich mit Unterstützung zweier Gehhilfen mühsam Stufe für Stufe hinunterhangelte, man konnte sehen, dass seine Beine sehr dünn und kraftlos waren, viel mehr als darauf stehen konnte er nicht. Vollkommen unerschrocken drehte er sich jetzt zu dem hinter ihm Herunterpolternden um und bot freundlich an, ihm Platz zu machen, es werde noch ein wenig dauern, bis er unten sei.
Als habe ihn diese Ansprache in das Auge des Orkans katapultiert, fiel augenblicklich alle wirbelnde Kraft aus dem Stürmenden und der junge Mann, der höchstens halb so viel Lenze zählte wie sein Vordermann, wurde die Ruhe selbst.
„Auf keinen Fall, gehen Sie nur vor“, forderte er den Gehbehinderten auf, „so viel Zeit muss sein, für den Stress haben wir ja die Frauen zu Hause!“

Ich will jetzt keinesfalls die Details wiederholen, mittels derer wir gemeinschaftlich erörterten – ich beteiligte mich selbstverständlich an dem folgenden Diskurs – inwieweit die von dem Handwerker aufgestellte Theorie, Frauen seien – aus Sicht der Männer – als Stressquelle denkbar, durch entsprechende Erfahrungen verifiziert oder falsifiziert werden könnte.
Als die beiden die Treppe bewältigt und unten bei mir angelangt waren, kündete jedenfalls ein wunderbares Gelächter von dem schönsten Einvernehmen, das man in solch komplizierten Fragen nur erzielen kann.

Der Initiator der Diskussion nahm nun wieder seinen Wirbelsturmmodus an und stürmte, das Handy zückend, an uns vorbei und hinaus. Diesmal fing ich die zuschwingende Tür auf und stellte mich nach draußen, um dem immer noch lachenden Herrn das Leben etwas erleichtern zu können. Dankbar nickte er mir für diese kleine Aufmerksamkeit zu … und dann geschah etwas, was schwer zu beschreiben ist, eine Saite wurde in mir angeschlagen, die ich kenne und für die ich doch keine Worte habe – und alles an mir wurde nur noch … aufmerksam.

Er blieb gewissermaßen im Thema, und er lachte dabei genau das selbe helle, herzliche, alles nicht wirklich ernst nehmende Lachen von eben, als er Ungeheuerliches erzählte, in einem einzigen Satz:
„Mit einer Frau hat auch das hier begonnen“, sagte er und zeigte dabei auf seine Beine, „sie hat mich verlassen und die Kinder gleich mitgenommen, das hat mich so durcheinander gebracht, dass ich einen Unfall hatte und drei Monate im Koma lag.“

Wie gesagt, es war nicht die Dramatik, die in dieser kurzen Erzählung lag, welche mich so wach werden ließ, es war eher die Heiterkeit, die durch den Wechsel von einem klamaukhaften Spaß in die Vehemenz einer persönlichen Tragödie scheinbar nicht gebrochen werden konnte.
Es kam mir sehr gelegen, aus dem Augenwinkel zu sehen, dass die Gartenpforte geschlossen war, und ich bot dem Herrn an, ihn bis dahin zu begleiten, was er gerne annahm.
Mir gingen die beiden Bücher, die ich vor kurzer Zeit gelesen hatte, durch den Kopf, in denen Komapatienten über erstaunliche Erfahrungen berichteten, und ich fragte so harmlos und unaufdringlich ich konnte:
„Drei Monate im Koma! Merkt man da irgend etwas?“
Als sei keine Zeit zwischen meiner Frage und der Antwort, sagte er, selbst wie erstaunt, und doch, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt:
„Ich war drüben“ und wiederholte, während er mit einer der Gehhilfen über den Garten hinwegwies: „Ich war da drüben!“
„Ich hab‘ einiges darüber gelesen, wie hat sich das denn angefühlt?“, hakte ich nach.

Und dann erzählte er. Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er bisher noch nicht viel darüber gesprochen und nachgedacht hatte, es war eher, als habe er in ein Buch geschaut, den Inhalt sofort begriffen und würde dies Buch jetzt am liebsten weitergeben. „Lies du, wenn es gut ist, sag‘ Bescheid“. So kam es mir vor.
„Frieden“ habe er erlebt „da drüben“, einen absoluten Frieden und dass alles, was man wolle, sozusagen, als sei es ein Ort, dort versammelt sei, und dass es keinerlei Bedürfnis gebe, diesen Ort jemals wieder zu verlassen. Und eine Art „Licht“. „Aber Worte!“ Keines reiche aus, diesen Zustand wirklich zu beschreiben. „Das ist nichts Körperliches“.
Aber doch sei ein Teil dieses schon im Ziel angekommenen Wollens gewesen, wieder zurückzukehren. „Und das“, meinte er, schon wieder etwas mehr auf dem Boden, „war hochinteressant: man merkt, wie man irgendwo anstößt, es gibt Widerstand, der zuvor vollkommen aufgehoben war, da war nichts, was Widerstand hätte leisten können, jetzt eckt man sozusagen wieder an“, hell lachte er auf und freute sich über dieses Sprachbild, mit dem er von nichts anderem erzählte als von dem Moment, als er im Begriff gewesen war, wieder in seinen Körper zurückzukehren.
„Was ist Ihnen geblieben von dem Erlebnis?“, wollte ich wissen.
„Manchmal kann ich noch an die lebendige Erinnerung … es ist wie ein „Andocken“, aber das ist nicht das Wesentliche: es ist mir geblieben, dass alles hier ist, hier, in dieser Welt, der ganze Friede ist hier! Aber wir müssen ihn pflücken, die Liebe drängt sich nicht auf, das ist ganz wichtig! Wir müssen sie einladen.“
Dieses eine Mal sprach er von Liebe.

In diesem Moment verstand ich seine Heiterkeit, die von dem Drama nicht zu brechen war, und als ich zurückging zur Tür, um erneut zu klingeln, hatte er mich angesteckt mit ihr, und sie füllte wortlos den kleinen Zeitraum aus, bis der Summer ertönte, der nun einen deutlich vertrauenerweckenderen Tonfall anschlug.

*

11 Gedanken zu “Jenseits des Schmerzes

  1. gerne kommentiere ich hier, weil mich die Aussage Deines Textes sehr tief berührt hat.

    Und ich lese das, was der alte Herr sagte „die Liebe drängt sich sozusagen nicht auf. Wir müssen sie einladen.“

    Danke für diesen Text voller Humor und Ernst

    LG von Bruni

  2. Ich mag sehr, wie du diese Saite beschreibst, die in dir angeschlagen wurde, Michael: dieses Aufmerksamwerden, das Gespür für den Augenblick, für die tiefe Verbindung, die zu einem ganz Fremden möglich wird, für die Geschichte, die genau so noch nie erzählt wurde… Die Geschichte selbst ist natürlich auch eine Wucht: Und für einen Augenblick ist die Angst ganz klein. Herzliche Grüße nach nebenan!

    1. Herzlichen Dank, Maren, für diese schöne Reflexion und … Resonanz. Eine Saite klingt aus der Tiefe einer Verbundenheit, die meist verdeckt ist, aber nie unwahr. Und das ist etwas durch und durch Friedliches, an dem die Angst verrauchen kann.
      Winke eben mal übern „Gartenzaun“ 🙂
      Michael

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