Sie hat sich einen Moment zu spät entschieden, abzubiegen, erzählt sie mit ernster Miene, dann aber lächelt sie gleich wieder:
Dem Sanitäter, der sie aus dem Auto holt und sie für den Krankenwagen transportfähig macht, fällt – als klar wird, dass sie ansprechbar ist – als Erstes ein: „Wow! So ein Unfall und kein Kratzer im Gesicht!“
„Männer!“ schmunzelt sie genüsslich bei dieser Erinnerung.
Sie ist halbseitig gelähmt. Die Ärzte können nicht operieren, das Risiko ist zu groß. Ein Bluterguss komprimiert das Rückenmark der Halswirbelsäule, und das ist die einzige Hoffnung: dass er sich rechtzeitig auflöst. Dennoch hält es einer der Ärzte für richtig, ihr zu sagen, dass sie nach menschlichem Ermessen nie wieder werde gehen können.
Das belastet sie schwer, sie ist alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes, wie soll das gehen?
Als ihr Söhnchen sie zum ersten Mal besucht, nimmt er seine Mama in den Arm, lacht mit ihr, freut sich einfach nur, sie wiederzusehen. Das gibt ihr den ersten Schubs in die andere Richtung: sie will gesund werden!
Der kleine Mann, der sie jeden Tag besuchen will, sprüht nur so vor Zuversicht, während er bei ihr ist: das wird wieder gut. Zu Hause aber weint er viel. Der Oma vertraut er an: „ich kann nur zu Hause weinen, das darf die Mama nicht wissen, sie muss sich freuen, um gesund zu werden.“
Fünf Jahre ist er jung, und irgendwann besteht er darauf, ganz bei ihr zu sein. Ärzte und Pflegepersonal sehen die Chance. Sie schaffen die Möglichkeit, dass die beiden für zwei Monate in einem Zimmer wohnen können, das sie sich gemütlich einrichten.
Der Junge ist ihre Perspektive, und er spürt das.
Förmlich in letzter Sekunde, bevor das Nervengewebe irreversibel geschädigt wird, lässt der Druck des Blutgerinnsels nach.
Eine kleine Schwäche der Fußhebermuskulatur ist geblieben, sonst nichts. Sie ist wiederhergestellt. Unendliche Dankbarkeit spricht aus ihr, als sie das erzählt.
Doch nicht zu spät abgebogen, denke ich, vielleicht gibt es das gar nicht: ‚zu spät‘.
„Und keine Kratzer im Gesicht!“, lacht sie, und es stimmt: alles gut.
*
„Stark“ (viel mehr sage ich nicht. Und dein Foto passt wunderbar hierzu.)
Das habe ich auch empfunden beim Zuhören: „einfach stark“! Und damit ist ja auch schon alles gesagt. Danke, Marion!
Eine vielschichtige Geschichte! 🙂
Das Los des Erzählers einer Geschichte ist es, zumal wenn er eine Geschichte erzählen will, die ihm zuvor selbst erzählt worden ist, dass sich auf das, was er eigentlich will, nämlich von einem GESCHEHEN erzählen, Schicht um Schicht dieses GESCHEHEN verhüllende Wahrnehmungen legen: die des eigentlichen Erzählers, die eigene, und bei jedem wieder beliebig viele Wahrnehmungsebenen, die faktische, emotionale, metaphorische und und …. , die alle wieder Schichten sind, die nichts besseres wissen als sich aufzuschichten und hochzustapeln und das eigentliche GESCHEHEN in immer tieferen Nebel zu hüllen. Und so würde sich jeder Erzähler einen Wolf schichten, käme ihm nicht der Umstand zugute, dass bei aller Verschichtschachtelei etwas immer unverschubschachtelbar bleibt: die BEGEGNUNG SELBST: Und so begegnen sich mehr oder weniger verhüllt der eine mit dem anderen Erzähler, und deren Ebenen des Erzählens begegnen einander … in dem selben PUNKT, der das eigentliche GESCHEHEN IST, das dann eben doch – hurra! – erzählt werden kann. Und das ist dann Poesie, wenn es klappt! 🙂 🙂
Ist es Zufall, dass du die Geschichte mit einer Kastanie bebildert hast, die ja Jahr für Jahr (im Herbst) so aussieht, als würde sie sich nie mehr erholen, um dann Jahr für Jahr (im Frühjahr) doch wieder in voller Pracht und Blüte zu stehen?
Die Miniermotte macht unseren Kastanien schwer zu schaffen, das ist wohl wahr, und tatsächlich die Verbindung, die ich zwischen Foto und Geschichte gesehen habe: dennoch diese Lebenskraft!
Erstaunlicherweise erzählt mir just heute jemand, der nichts von Foto und Geschichte weiß, dass die Kastanie jetzt auch noch von einem Pilz bedroht wird, der wohl kaum in den Griff zu bekommen ist. Es gebe schon Stimmen, die vom Aussterben der Kastanie in ganz Europa sprechen. Pah! Die kennen unsere Hamburger Kastanien nicht! Für die gibts kein „zu spät“!
Und noch ein Ausrufezeichen für die Lebenskraft: ! Die apfelschampoogrüne ebenso wie jede andersfarbige.