Man kennt das. Es ist menschlich. Wenn jemand zu Grabe getragen wird, beschäftigen sich die, die gekommen sind, ihn bis an jene Schwelle zu begleiten, über welche ein Jeder alleine gehen muss, besonders in den hinteren Reihen dieser Gefolgschaft vornehmlich damit, die vermeintliche Tatsache zu illustrieren, dass ihr eigenes Leben eine Ausnahme und prinzipiell unendlich ist.
Auf diese Weise erfährt der schweigende Mitläufer – ob er will oder nicht – während er sich in kleinsten Schrittchen dem offenen Grab nähert, wo er sich in Worten, die er noch nicht kennt, verabschieden will … von den schönsten Sandstränden Ibizas, wie man Rosen fachmännisch beschneidet und den lästigen Blattläusen ein Schnippchen schlägt und wer – bei Beachtung selbst für einen Fußballignoranten wie mich einfach zu verstehender fußballerischer Grundtugenden – in der Bezirksliga den Aufstieg schaffen wird. Der Ball ist rund und rollt. Warum sollte er jemals damit aufhören. Es ist menschlich.
Und doch wäre mir ein wenig mehr Ruhe lieber, um zu den Worten zu finden, nach denen ich suche.
Es wird thematisch härter hinter mir, auch lauter, man spricht jetzt von Geld, Zinsen, Anlagemöglichkeiten. Ausblick in die Zukunft. Es ist noch Wachstum möglich.
Trotz ernsthaftestem Bemühen will es mir nicht gelingen, mich zu konzentrieren und mich von dem Gespräch in meinem Rücken zu lösen. Und so stehe ich schließlich mutterseelenallein und ohne passende Worte vor dem offenen Grab.
Hier rollt der Ball aus, enden die Strände dieser Welt, wachsen die Rosen nicht mehr und nicht die Renditen, hier fehlen mir die Worte, „verzeih‘ mir“, denk‘ ich nur, „ich kann diese Schwelle nicht überbrücken.“
„Das brauchst Du nicht, ich tu’s für Dich!“, scheint es mir aus der Tiefe zu antworten, wo das Auge nur einen Sarg erblickt, ein paar Blumen auf dessen Deckel und die kleinen Häufchen Erde, die wohl sagen wollen: „Erde zu Erde, Staub zu Staub“.
Und das Ohr, das sich dieser überraschenden Ansprache öffnen will, weil es in der hermetisch geschlossenen Welt von Sinn und Verstand kein Wort gibt, das die unsichtbare Tür vor mir noch aufschließen kann, hört: „Geist zu Geist, hab‘ keine Angst!“.
Als ich mich umwende, um weiterzugehen, begegnet mir das Antlitz der Dame, die eben noch über Anlagestrategien gesprochen hat, und es läuft eine kleine Träne über ihre Wange. Die Tür steht weit offen, durch die wir beide gehen und unter den Füßen spüre ich die Brücke, die ich mit eigenen Worten nicht bauen konnte, sie ist einfach da, für uns alle.
Leb‘ wohl!
*
„Geist zu Geist, hab‘ keine Angst!“
Welch wunderbare Botschaft.
Ja, das find‘ ich auch, da fällt das Lot durch alles.
Herzlichen Dank für deine Worte!
Michael
Das ist eine sehr berührende und lebensnahe Beschreibung, der Beerdigungsbegleiterscheinungen und der geistigen Öffnungen, die immer wieder möglich sind. Öffnungen oder Brücken, welche die unausweichliche VERBUNDENHEIT des Seins auch dem lauten Zeitgenossen ins Herz zu senken vermögen. Eine stille und vielsagende Lektion in DEMUT und göttlicher LIEBE.
Herzensgruß vom mir zu Dir 🙂
Wie ich mich freue über Deinen Kommentar! Was für schöne Worte Du findest, danke Dir dafür!
Michael, herzensgegrüßt und herzgrüßend
Es sind diese Wunder, die der Tod ermöglicht.
Spannend, wie Du das ausdrückst! Das bedeutet ja implizit, dass – wenn der Tod Wunder ermöglicht – er nicht das sein kann, wofür wir ihn üblicherweise halten: ein Ort ohne Leben.
Ich wäre – was die Beziehung von Wunder und Tod betrifft – von der anderen Seite gekommen und hätte vielleicht gesagt: wir sind es, die Wunder ermöglichen, in den Augenblicken, in denen wir dem Tod unseren Glauben entziehen.
Aber bei Licht betrachtet: sagen wir da nicht dasselbe?
Ganz deiner Betrachtung folgend sehr ich die Wandlung/das Wunder am Menschen, sobald er den Tod gegenübersteht.
Womöglich darf sich die Art von Glaube an den Tod auch ändern…
Womöglich ist bei Nicht tatsächlich alles ein und dasselbe.
Herzliche Grüße, Marga
Schön! Das „Nicht“ zu „getrennt“.
Wo möglich sind wir bereit, uns belehren zu lassen, was das bedeutet.
Freu mich sehr über deine Erwiderung und grüße ebenso herzlich,
Michael
Die vielen Fehler tun mir leid. An diese Korrekturen muss ich mich erst gewöhnen…
Die Bereitschaft, Fehler einzugestehen, ist die Einladung an das Fehlerlose, uns zu korrigieren.
Sagt Laotse.
Oder meine Großmutter mütterlicherseits. Ich weiß nicht mher genau.
.-)
Das gefällt mir sehr gut. Vielleicht ist ja deine Oma ja… Reinkarnation und so…?! 😉
Ich hatte immer schon so eine Ahnung …
Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenige Menschen das Bedürfnis zu haben scheinen, auch einmal Worte zu suchen anstatt ununterbrochen welche von sich zu geben. So groß ist die Angst.
… und sie verpassen die Freude, von einem Wort gefunden zu werden!
Das ist eine berührende Schilderung deiner Gedankengänge: vertrackt und verwirrt und gekonnt. Großes Kompliment!
So ein schönes Lob löst jede Verwirrung!
Eine Geschichte, die ich nicht nur einmal lesen möchte. Wenn es eines Tages das zweite Buch geben sollte, kommt diese hoffentlich auch hinein.
Wenn ich der Geschichte das erzähle, dass sie von Dir ein zweites Mal gelesen wird, falls ich ein Buch mit ihr darin schreibe, wird sie keine Ruhe geben! Ich sag aber nix. 🙂
Dann behalte es heimlich für dich. Alles muss selbst diese besondere Geschichte nicht wissen. Wenn sie in ein Buch kommt, erzählst du es ihr schon, oder? Ich sende dann eine gute Ladung Konfetti rüber nach Hamburg, für ausgelassene Geschichten perfekt.
Dieser Name ‚der schweigende Mitläufer‘ ist schön subtil, mein Lieber! Gelten die Mitläufer nicht immer als „mitschuldig“, so ein wenig zumindest? Und nun die Frage: wessen sei ein im Gefolge der im Vergänglichen Zurückgebliebenen zu einer Grabstätte mitlaufender Mensch mitschuldig? Vielleicht ein wenig dessen, darüber jener Dame eine kleine Träne der Reue zärtlich über die Wange strich? Diese „Mitschuld“ wird nicht von mir jemandem zugewiesen, aber vielleicht von den Genannten mitempfunden. Das, dessen sie eine Mitschuld empfinden mögen, ist vielleicht, dass sie den Verschwundenen nicht erkannten, als er noch in einem Cörper neben ihnen ging? Noch derweil dieses Ganges zu der Grabstätte denken sie, sie trügen jemanden, sprich: ihn zu Grabe. Ist das so? Liegt in Urne oder Sarg der Mensch, der starb? Oder liegt dort nur der Leichnam, der entseelte Cörper, als der dieser Mensch einst über die Sinne vernommen erdeutet ward, der er jedoch nie war, weil er die über die Sinne unvernehmliche Seele war und ist, die nun nicht mehr in dieser Stoffgestalt auf der Erde irdisch erscheint? Und sei diese Seele nun tot, nur weil sie nicht mehr in dem vernehmlichen Gefährt namens ‚Cörper‘ wandelt und zu sehen ist? Was weiß jemand über den Tod, wenn er das Unvernehmlche schon als ‚tot‘ erachtet?
Der Tod ist keine Quelle, keine Hilfe. Der Tod ist lediglich der Anschein für den über die Sinne an die Cörper Glaubenden, dass „das Leben“ entschwunden oder gewichen sei, weil über die Sinne nur das Vernehmliche gilt, das zugleich das Vergängliche ist. Aber sei das Lächeln vergangen, das der schweigende, unschuldig mitlaufende Freund erinnert, das der dem Cörper Entschwebte einst mit ihm teilte? Er teilt es noch immer, so lange das Gedenken dessen atmet.
Er teilt es noch immer.
Herzlichen Dank, lieber Achim, für diese Meditation über den Tod, der an einem Lächeln seinen Schrecken und seine Wirklichkeit verliert.