Einklang

Ich kenne eine Frau, die bei ihrer Arbeit mit Kindern – sie ist Grundschullehrerin – ein einfaches Mittel anwendet, um Ruhe herzustellen: Auf ihrem Pult steht ein kleiner Gong, den sie nur einmal leicht anschlägt, wenn es ihr zu laut wird, und sofort sind die Kinder still und richten ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Unterricht aus. Das hält nicht immer lange an, aber es funktioniert zuverlässig als Unterbrechung jeder Form von Unruhe.

Sicherlich ist das allein schon bemerkenswert. Das eigentlich Interessante für mich aber ist, dass jeder Versuch der Kolleginnen besagter Lehrerin, sich ebenfalls auf diese Weise ins Paradies ruhiger Klassenzimmer zu gongen, kläglich scheiterte. Nicht, dass die Kinder diese Versuche aktiv boykottiert hätten, sie reagierten einfach nicht, fühlten sich nicht angesprochen, es kam nicht an bei ihnen, hatte nichts mit ihnen zu tun.
Die Kolleginnen mussten wieder auf ihre eigenen Strategien zurückgreifen, der Gong blieb nur bei dieser einen Lehrerin erfolgreich.

An der selben Schule trat einmal ein Marionettenspieler auf, der nach der Vorstellung in kleiner Runde von einem ähnlich einfachen, noch subtileren Mittel berichtete, das er anwendete, damit sich bei seinem Publikum die nötige Aufmerksamkeit einstelle.

Keiner seiner Versuche, vor dem Beginn der Aufführung wortreich zu erklären, dass für den Puppenspieler ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit im Raum wichtig sei, die er spüre und in der er seine Poesie erst entfalten könne, hätten geholfen. Bis er eines Tages in sich gegangen sei und sich gefragt habe, wie er selbst denn sein Publikum wahrnehme. Ehrlich berichtete er, wie zunächst  Vorurteile, konkrete ärgerliche Erinnerungen und vor allem die stets lauernde Angst, mit seiner Kunst missachtet zu werden, seine Wahrnehmung bestimmt hätten. Aber neben oder hinter all dem sei etwas Positives aufgetaucht, das er immer auch empfinde: Dankbarkeit. Dankbarkeit schlicht dafür, dass die Leute zu ihm kamen, um sein Spiel anzusehen.
Da habe er beschlossen, zukünftig keine Ansprachen mehr zu halten und Erklärungen abzugeben, sondern sich lediglich vor jeder Aufführung an diese Dankbarkeit zu erinnern.

Wenn er beginnen wolle, verneige er sich, ganz im Stillen, nur für sich, vor seinem Publikum und danke ihm. Die Aufmerksamkeit stelle sich sofort ein. „Man muss die Dankbarkeit aber wirklich in sich finden, sonst funktioniert es nicht“, gab er seinen staunenden Zuhörern noch mit, die ja zuvor erlebt hatten, wie sie sich selbst ab einem gewissen Punkt auf seine Vorführung konzentriert hatten.

Ich erinnere mich an diese Geschichten, weil ich nach Beispielen suche, die mir helfen könnten, einzuordnen, was mir heute geschehen ist. Unvorbereitet bin ich einer Frau begegnet, die an Morbus Alzheimer erkrankt ist. Sie ist in Begleitung ihres Sohnes gewesen, der nicht gezögert hat, ganz offen über ihre Krankheit zu sprechen, um mir, dem Unbekannten, die Irritation zu ersparen. Und da gab es einen Moment in dieser Begegnung, über den ich seitdem nachdenke.

Dr. Ihaleakala Hew Len ist mir noch eingefallen, den ich freilich nur vom Hörensagen kenne – und doch hat mich sehr tief angesprochen, was über ihn berichtet wird. Dr. Len ist ein hawaiianischer Therapeut, kommt aus der Tradition des auf Hawaii als Heilmethode zur Aussöhnung und Vergebung angewandten „Ho’oponopono“ ( „in Ordnung bringen“ ), hat aber im Laufe der Zeit ein sehr eigenständiges Denken entwickelt, das, wie ich es verstehe, aus den speziellen Erfahrungen resultiert, die er machen konnte.

Dr. Len war in den 1980-er Jahren für etwas mehr als ein Jahr als Therapeut in einer Abteilung für psychisch erkrankte Kriminelle tätig. Es wird berichtet, er habe in dieser Zeit lediglich die Akten der Erkrankten eingesehen: Seine Arbeit sei einzig und allein gewesen, an sich selbst zu arbeiten, indem er für alles, was ihm beim Studium der „Fälle“ begegnet sei, die Verantwortung übernommen habe. Ich verstehe das so, dass er diese Verantwortung in Vergebung münden ließ und mit der Bitte um eine andere Sicht auf die Dinge verband, so lange, bis er dem ihm Unbekannten aufrichtig sagen konnte: Ich liebe Dich, ich verzeihe Dir, ich habe dich wiedererkannt als meinen Seelenbruder. Die „Verantwortung“ bestünde dann in dem Akt, in sich selbst die Schranken vor dieser Sicht abzubauen.

Die angespannte Lage, die auch auf die Pflegekräfte und Ärzte übergegriffen hatte, entspannte sich zunehmend, Zwangsmaßnahmen wie Fesseln konnten mehr und mehr reduziert werden und es mussten immer weniger Medikamente gegeben werden. Knapp zwei Jahre nach Beginn der Arbeit von Dr. Len konnte die gesamte Abteilung aufgelöst werden.

So hört man und muss sich nun fragen, was man davon hält. Ein Märchen? Eine geschönte Erzählung? Ein Wunschtraum? Oder gibt es noch eine andere Resonanz, einen leisen Gong vielleicht, ein „Danke“, eine Verneigung vor dem Anderen, die still hinter allen Einwänden von einem Einverständnis spricht mit einem solch ungewöhnlichen, für unsere rationalen Kategorien unglaublichen Heilungsansatz?

Ich sagte, ich suche nach einer Hilfe, mir zu erklären, was vorhin geschehen ist, äußerlich vielleicht eine Banalität, nichts Besonderes, aber in meinem Erleben kaum einzuordnen, es sei denn, ich akzeptiere das Wunder.
Die an Alzheimer erkrankte Frau hält ununterbrochen Selbstgespräche, in einem  freundlichem, ja warmherzigen Ton, emotional sehr facettenreich, und ganz entspannt dabei wirkend bespricht sie die Dinge, die ihr gerade durch den Kopf gehen, dies allerdings ohne einen erkennbar sinnvollen Zusammenhang. Ihr Sohn verhält sich ausgesprochen tapfer, versucht, die Situation so anzunehmen, wie sie nun mal ist und für seine Mutter da zu sein. Aber als sie ihn einmal ansieht und ihr Gesicht dabei verzweifelt und angestrengt wird, weil sie ihn ganz offensichtlich nicht erkennt, bricht er fast zusammen. Was für ein Augenblick! Die Mutter schaut ihren Sohn an und erkennt ihn nicht. Das ist für den jungen Mann ein Albtraum, auch wenn er versucht, sein Wanken mannhaft zu beherrschen. Und ich wanke mit ihm, auch ich bin der Sohn einer Mutter, und es ist der Horror.
Dann aber dieser Moment. Sie deutet plötzlich auf eine Zahl, irgendwo auf einer Werbetafel: 214. „Hundert … vierzehn“ sagt sie und ich weiß nicht, wieso, aber ich freu‘ mich so sehr über diese richtig benannte „vierzehn“, dass ich mich zu ihr hindrehe, ihr ins Gesicht schaue und freudestrahlend wiederhole: „Vierzehn!“, wie vielleicht bei einem Kind, wenn es ein neues Wort zum ersten Mal ausspricht.
Jetzt wird es schwierig, und deshalb – Verzeihung! –  der ganze Vorlauf: wenn ich sagen will, was ich wirklich erlebt habe in diesem Moment, kann ich nicht anders: Für diesen Moment ist da keine Krankheit, das „Ja“, mit dem mir die Frau antwortet, ist vollkommen ungetrübt und klar wie Quellwasser.
Es gebe solche Augenblicke, erklärt der Sohn, aber er sagt es mit der Resignation der Erfahrung in der Stimme, dass diese Augenblicke immer sofort verlöschen. Und so scheint es auch diesmal zu sein: die Mutter kehrt wieder zu ihren Selbstgesprächen zurück.

Aber …..

haben wir Söhne, wir Kinder unserer Mütter nicht eben vor dem Spiegel gestanden, in dem wir uns einst gelernt haben zu sehen, und haben wir nicht erlebt, dass im selben Moment, wenn die Freude rein genug ist, frei von Zweifeln, Beschränkungen, Bedingungen, Ängsten … dieser Spiegel nicht anders kann, als wieder ungetrübt zu sein, und wenn auch nur für einen kurzen Augenblick?

Kann ich es über mich bringen, zu sagen, Du, unbekannte Frau, ich liebe Dich, ich verzeihe Dir, ich habe Dich wiedererkannt als meine Seelenschwester?

Danke, lieber Leser.

 

*

7 Gedanken zu “Einklang

  1. Das: „Jetzt wird es schwierig, und deshalb – Verzeihung! – der ganze Vorlauf“ ist das einzige, das ich nicht nachempfinden kann. Es ist alles wunderbar klar und ein Geschenk an die Leser.

  2. Das ist einer der tiefgreifendsten Beiträge, die ich seit langem gelesen habe. Dafür möchte ich eigentlich viel mehr als ein Like geben. 🙂
    Auch ich bin der Meinung, dass die Dinge nicht um uns herum geschehen, sondern in uns selbst, und dass diese Erkenntnis Unglaubliches zustande bringen kann.
    Zu Hawaii: Ich habe einmal gelesen, dass die Ureinwohner von Hawaii nach folgendem Motto leben: Wenn jemand wütend ist auf einen andern, dann überlegt er sich was es bräuchte, damit er selbst sich so verhalten würde wie der, auf den er wütend ist. Er geht also weg vom andern und hin zu sich selbst. Die alten Hawaiianer sagen dann: Es tut mir Leid.
    🙂

    1. Ganz lieben Dank!
      Die hawaiianischen Ureinwohner hatten eben noch kein Gesichtsbuch, in dem sie sich ihre Freunde kreieren konnten. 🙂
      Dass alles „in mir“ geschieht, wirft natürlich die Frage auf, was ich glaube zu sein.
      Die Ureinwohner, die eine solche Tradition wie das Ho’oponopono hervorgebracht haben, hatten sicherlich nicht eine so scharf abgrenzenende Vorstellung ihrer Identität wie wir üblicherweise heute.
      Wir müssen einen langen Weg gehen, bis wir wieder glauben können, dass wir Ein Geist sind. Dann, auf dem Weg dorthin, macht es Sinn, zu sagen: Es tut mir leid, dass ich dich in meiner beschränkten Sicht gefangengehalten habe, ich gebe dich frei, verzeih‘ mir.
      Und das auch dann, wenn der andere davon nichts wissen will.
      Lieben Gruß
      Michael

      1. Ich glaube, dass alles in mir geschieht, aber nicht, dass ich dieses In-mir immer beeinflussen kann. Andere Menschen und Einflüsse spielen auch eine Rolle dabei. Ich kann höchstens entscheiden, wen oder was ich an mich heranlasse, und selbst da bin ich mir nicht sicher. Aber der Gedanke, einen anderen aus der beschränkten Sicht meines In-mirs freizugeben, ist einfach wunderbar. Dann ist es auch nicht mehr wichtig, aus welchem Grund meine Sicht entstanden ist. 🙂

  3. „Vierzehn?“
    „Ja.“
    Einklang. Ohne Erwägung, welche erachteten oder erdeuteten „Dinge“ in vierzehnfacher Anzahl dort seien.
    Und der „Sohn“, der kein Sohn ist, sondern sich als diesen erachtet und erdeutet, leidet, weil seine „Mutter“, die nicht seine Mutter ist, sondern seine Seelenschwester, ihn nicht so wiederkennt, wie er sich und sie ihn früher immer erachtete und erdeutete. Die an Morbus Alzheimer Erkrankten sind dem Wertegfängnissen der „Gesunden“ entkommen. So mögen wir sie als eine „Weise der Vergebung“ empfinden, allerdings eine nicht vom GEISTE der LIEBE bewogene.
    Das „Ja“ war wie ein Gelübde für die EINSHEIT.

    1. Was mir hier offensichtlich wird, ist die Armut, mit der wir denken, wenn wir dieser Ebene keinen Raum geben, es bliebe nichts als der blanke Schrecken!
      Das „Ja“, ein Gelübde für die EINSHEIT, ein Funkeln dieser Ebene SELBST, die nicht kränkbar ist, durch nichts. Für mich eins der Wunder, die mich glauben lassen, was ich mir allein nicht denken kann.

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