Unbezahlbar

Macht Geld froh? Hält es uns eher davon ab, wahre Freude zu erleben, oder spielt es am Ende gar keine Rolle, sind die Piepen piepegal, wenn es um Freude, Glück und inneren Frieden geht?

Er ist einer der reichsten Männer der Stadt, und sie eine äußerst erfolgreiche Maklerin. An diesem Morgen begegnen sie sich auf wahrhaft ungewöhnliche Art und Weise, und sie kommen sich dabei sehr nah. Aus diese Nähe erwächst ihnen beiden Freude und Glück, obwohl es zunächst nicht danach aussieht: Urplötzlich befinden sich beide in einer Situation, in der alles Geld der Welt zur Wirkungslosigkeit verpufft und nur das nackte Leben noch da ist und die Frage, was es hält, birgt, sichert, stützt und nährt, was ihm Grenzen setzt und worin wir Sicherheit erleben, oder um es so zu sagen: was es eigentlich ist, das unser Vertrauen in dieses Leben rechtfertigt.

Er fährt mit seinem Ferrari auf einer Vorfahrtstraße durch ein Wohngebiet und drosselt dennoch vor einer Kreuzung deutlich das Tempo, weil Baufahrzeuge seine Sicht behindern. Ganz langsam fährt er in die Kreuzung ein und da ist es schon passiert: Sie prallt mit ihrem Fahrrad gegen den Kotflügel seines Wagens, fliegt über die Motorhaube und schlägt auf der anderen Seite mit dem Kopf auf den Asphalt.
Er sieht, noch im Wagen sitzend, die schnell größer werdende Blutlache um ihren Kopf und steigt sofort aus. Er hat nur einen Gedanken: Helfen! Ich muss helfen!!

Während die beiden Zeugen – der Fahrer des Wagens, der unmittelbar hinter ihm hergefahren ist, und der später behauptet, er sei zu schnell gefahren, und ein Fußgänger, der vom Gehweg aus alles genau beobachtet hat –, nachdem sie die Polizei gerufen haben, nur noch in sicherer Distanz herumstehen und sich auf ihre bevorstehende Rolle als Zeugen vorbereiten, kniet er sich zu der Verletzten hinunter und versucht, zu erfassen, was zu tun sei. Ein einziger Blick auf die beiden Zeugen hat ihm gezeigt, dass von ihnen keine sinnvolle Hilfe kommen werde, er hat den Eindruck, sie finden es korrekt, dass der, der den Schaden angerichtet hat, sich jetzt auch kümmert. Er weiß, die Situation braucht Ruhe und Klarheit, und er erlaubt sich keinen Ärger. Er ist ohne Angst, und kein Gedanke von Schuld oder Nichtschuld kommt ihm zu diesem Zeitpunkt in den Sinn. Da ist nur die Frage: was kann ich tun?

Er kontrolliert den Kreislauf der Verletzten, die ohnmächtig geworden ist: das Herz schlägt und sie atmet! Weil er es für möglich hält, dass ihre Halswirbelsäule Schaden genommen hat, verzichtet er auf eine Umlagerung und stabilisiert ihren Kopf mit seiner Jacke. Dann drückt er, so gut er kann, das blutende Gefäß ihrer Kopfwunde ab. Sie wacht auf und spricht mit ihm. Er versucht, ganz ruhig zu sein und seine Ruhe auf sie zu übertragen. Jetzt. Jetzt sind sie sich nah. Jetzt ist da das größtmögliche Glück einer Begegnung: unmittelbare Nähe.

Alles wird gut. Der zweite Zeuge wird vor der Polizei ärgerlich über die Aussage des Autofahrers, der behauptet, er sei zu schnell gefahren. Er stellt die Situation richtig und ist dabei sehr genau, so dass der erste Zeuge schließlich zurückrudert, man ist sich einig: Er sei sehr behutsam und aufmerksam in die Kreuzung eingefahren und ohne Chance gewesen, den Unfall zu verhindern, der Wagen habe auch ohne jeden Bremsweg sofort gestanden.

Der Richter wird das später genau so sehen und die auch vom Notarzt attestierte vorbildliche Hilfeleistung hervorheben. Es wird ihm keine Teilschuld zugesprochen.

Wenige Tage nach dem Unfall besucht er sie im Krankenhaus. Diese Nähe – sie ist immer noch da, und wie selbstverständlich fällt zwischen ihnen kein einziges Wort des Vorwurfs.
Sie übersteht ihre Verletzungen ohne bleibende Schäden.

Beide kehren wieder in ihre Welt zurück, in die Welt des großen Geldes. Er bekommt von ihrer Versicherung 10000 Euro ausbezahlt, sie macht auf seinen Tipp hin ein wahres Schnäppchen, indem sie in letzter Sekunde den Kaufvertrag für ein Haus, das sie für sich und ihren Mann erwerben wollte, annulliert und sich das viel bessere und vergleichsweise spottbillige Objekt kauft – für knappe 10 Mio Euro.

In ihrer Welt zeigt sich der wahre Reichtum sogar am Geld. Obwohl es vermutlich nichts Unwahrscheinlicheres gibt als ein solches Zusammentreffen. Grenzenloser Reichtum kann eben nicht einmal seine oberflächlichste Imitation ausschließen, so absolut unbestechlich verteilt es sich unter uns.

 

      *

3 Gedanken zu “Unbezahlbar

  1. Tatsächlich unbezahlbar, diese Momente und sie lassen spüren, dass dann das tiefe Leben stattfindet. Wieviel Spuren davon mögen hängen bleiben, wenn sie in ihrer Welt des großen Geldes zurückkehren?

    1. Das kann man fragen, und man hat da natürlich so seinen Verdacht.
      Das Spannende ist für mich aber, dass überall und jederzeit die Tür aufgehen KANN. Wenn man sich diese Momente nicht entgehen lässt, dann kann das ungeahnte Auswirkungen auf das eigene Denken über andere Menschen haben.
      Wieviel „Feind“ brauchen wir für unser Selbstbild? Ist nicht doch in jedem letzten Endes die nackte Hoffnung auf echte Nähe das, was ihn treibt?

      1. Ja, die Türen können immer aufgehen, diesen Gedanken trage ich auch.
        Eine spannende gute Frage, wieviel Feind wir für unser Selbstbild brauchen. Ich denke, je wohler wir uns mit uns selber fühlen, desto weniger brauchen wir das.
        Der Wunsch nach echter Nähe, ja, ich glaube, das schlummert in dem Kern, der uns Mensch sein lässt.

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