Ich möcht‘ euch gern ein kleines Geschenk machen!
Aber erst mal will ich euch was fragen, das hat nämlich mit dem Geschenk zu tun!
Ich bin ja, wie manche schon wissen, seit ein paar Wochen bei mir zu Hause sozusagen festgenagelt, weil eine meiner Bandscheiben vorwitzigerweise partiell ihren angestammten Platz verlassen hat. Ich nehm‘ es ihr nicht übel, auch einer Bandscheibe muss man einen gewissen Freiheitsdrang zugestehen, und sie ist ja auch netterweise schon wieder auf dem Rückweg nach Hause, aber wie gesagt: das hat für mich doch Folgen! Z.B. auch die, dass – weil zu allem Überfluss meine liebe Frau über die Feiertage ihrer Mutter Gesellschaft leistet – ich hier für zwei Wochen eine Art Eremitendasein friste, mit genügend Lebensmitteln eingedeckt und quietschvergnügt, aber dennoch in einer irgendwie sonderbaren Situation.
Das ist alles noch nicht so interessant, gehört aber sozusagen zur Gebrauchsanweisung für das Geschenk, das ich euch so gern machen will. Ein wenig Geduld!
Also jetzt frage ich euch einfach, ob ihr das auch kennt:
Ihr sitzt am Fenster – wie ich das jetzt logischerweise überdurchschnittlich oft tue – und schaut hinaus, ihr seid vielleicht auch grade mal allein mit euch, niemand sonst da. Euer Blick fällt auf die Kronen der Bäume, die gegenüber auf der anderen Straßenseite stehen und verweilt schließlich an einem kleinen Zweig. Ihr könntet nicht sagen, warum gerade bei diesem, aber es ist eben so. Es ist ein hübscher Zweig. Nicht groß, nicht klein, fügt er sich so nett ein in diesen gigantischen Verbund des Geästs, der die Baumkrone bildet. Ein ganz harmloser Zweig, er hat absolut nichts Besonderes. Vielleicht gerade deswegen.
Und dann – eine ganze Weile ruht euer Blick jetzt schon auf dem kleinen Zweig – ist es, also ob … nein, eben nicht: es ist nicht, als ob, sondern ihr SEID da drüben bei dem Ast mit seinem Zweig! Nichts Spektakuläres, kein Aha und Oho: „Hallo Zweig!“, nein, nein!, eher etwas ganz Normales, Schlichtes, eher so, als merkt ihr durch die Ruhe, die sich zwischen euch und dem auserwählten Zweig breit gemacht hat, dass ihr euch sonst nur darüber hinwegtäuscht: ihr seid mal hier und mal da, und keinesfalls immer dort, wo euer Körper gerade sitzt oder geht und steht. Ganz normal. Ihr seid da, bei dem Zweig, nicht in Gedanken, nicht in eurer Phantasie, sondern tatsächlich!
Und dann kommt noch was: also es kommt nicht, sondern auch da merkt ihr: das ist eigentlich immer da, nur übertönt von all dem Lärm, den ihr den ganzen Tag macht, wenn ihr Position bezieht im Alltag oder sonst auch. Der Ich-Lärm ist weg. Und dann merkt ihr, wie diese unmittelbare Nähe zu dem Zweig, dieses Da-Sein, übertragbar ist auf Alles und Jedes, dass ihr überall sein könnt, nicht in Gedanken, sondern MIT euren Gedanken: bei euren Lieben, bei denen, die ihr vielleicht nicht so mögt, bei den Kindern von Aleppo, bei eurer Oma, die in einem ganz anderen Land lebt, selbst bei jedem einzelnen der vielen Menschen, die auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin gestorben sind am letzten Montag, bei ihren Lieben – ja, und sogar bei dem, den wir „Täter“ nennen, könnt ihr ganz lebendig SEIN, JETZT und tatsächlich. Und sie berühren mit eurer Nähe.
Das wollte ich also erst mal fragen: Kennt ihr das?
Ich bin nämlich unsicher, ob euch mein kleines Geschenk überhaupt Freude machen wird, aber sei’s drum, da soll man gar nicht lange fragen: mir macht es Freude, es euch zu schenken und deshalb schenk‘ ich’s euch einfach … ja, also das ist es dann, das Geschenk:
Mein kleiner Ahornzweig von gegenüber, zusammen mit einem heiteren Gedanken an jeden von euch, besonders aber an dich, der du dies gerade liest, und mit dem Wunsch, dass ihr eine Frohe Weihnacht haben möget.
Euer Michael
*
Lieber Michael, ich danke für deine Worte und dein Geschenk. Ich habe den Zweig und Gedanken erfreut und leise gepflückt. Ja, wir können nah bei anderen sein und es ist gut, dass du daran erinnerst.
Von deiner lebendigen Bandscheibe wusste ich noch nichts, finde toll, dass du so tolerant ihren Ausflügen gegenüber bist. : )
Herzliche Grüße zu dir, mit Dank, Marion
Liebe Marion,
ich kann doch nicht einem mir völlig fremden Zweig derart nahe kommen und gleichzeitig meiner eigenen Bandscheibe gegenüber intolerant und unfreundlich werden: das wäre ungerecht und lieblos! :~)
Ich danke dir von Herzen, dass du mein kleines Geschenk angenommen hast und wünsche dir und deinen Lieben eine Frohe Weihnacht!
Bis bald, schön, dass du da bist!
Michael
Wenn schon tolerant, dann rundum : )
Ich bin auch froh, dass du da bist!
Marion
Lieber Michael,
nicht ahnend, wohin der Text uns führen wird, setze ich mich zu meiner Mutter an den Küchentisch, und begann ihn uns beiden vorzulesen. Wir lachten herzlich über deine Formulierungen zu deiner Bandscheibe und wurden dabei schon von deiner Liebe berührt. Weiterlesend breitete sich Weite und Stille im Raum aus, obwohl noch deine
Worte zu hören waren. Als ich geendet hatte und aufblickte, sah ich meine Mutter versonnen lächelnd aus den Fenster auf den Baum im Hinterhof schauen Dann begegneten sich unsere Blicke, wir strahlten uns an und waren uns einig: Danke für dies wunderbare Geschenk, lieber Michael. ❤️
Liebe Katja,
du ahnst, welche Freude du mir mit diesem Vorlesebericht machst!
Aber lass‘ mich dir noch etwas dazu erzählen! Wir haben uns in den letzten Tagen sehr intensiv über die Ereignisse in Berlin ausgetauscht. Unser Gespräch hat viel in mir bewegt, besonders, was die Frage nach dem „Täter“ angeht. Da ist so richtig was in mir passiert!
Dieses „Weihnachtsgeschenk“ hier habe ich bereits vor einer Woche geschrieben und gespeichert, um es heute einzustellen. Ich bin damit sehr glücklich gewesen, habe es als echtes Geschenk empfunden und mich darauf gefreut, es abzuschicken.
Als ich es dann aufrufe vorhin und es noch mal durchlese, merke ich, dass er einfach fehlt: der „Täter“, der inzwischen erschossen ist, fehlt, so stimmt das nicht. Und ich füge ihn einfach ein. Mir ist dieser Baum, auf den wir doch alle „versonnen lächelnd“ blicken, noch mal ganz neu aufgeblüht und mir ist klargeworden: nicht auf die passende Zeit habe ich gewartet, bevor ich diesen Text abschicke, sondern auf diesen letzten Zweig!
Mir ist absolut bewusst, dass genau das, was mir dieses Geschenk jetzt selbst so wertvoll macht, für viele andere genau der Grund sein wird, es nicht anzunehmen. Aber wir müssen authentisch bleiben. für mich ist gerade das der Kern aller Geschenke: Du bist geliebt, und zwar ABSOLUT bedingungslos!
Liebe Katja, ich danke dir für die vielen Impulse, die du mir in den letzten Tagen zu diesem Thema gegeben hast, grüß‘ bitte auch deine Mutter von mir und: Frohe Weihnacht!
Michael
Lieber Michael, eine wunderschöne Geschichte, die tröstet und Zuversicht schenkt. Sie hat mein Herz sehr berührt und froh gemacht. Gott segne Dich dafür. In inniger Freundschaft Dein Heinz
Mein lieber Heinz,
herzlichen Dank auch dir, dass du mein kleines Geschenk angenommen und mir damit wiedergeschenkt hast.
Segen auch dir und Frohe Weihnachten,
Dein Micha
Bei so viel Akzeptanz müsste die Bandscheibe bald lammfromm an ihre vorgesehene Stelle zurückgleiten.
Ich danke Dir für dieses und auch all die anderen Geschenke, die immer hier bei Dir für alle Besucher bereitliegen.
„Lamm – fromm zurückgleiten“ : ein warhhaft weihnachtlicher Therapieansatz! 🙂
Ich danke dir, liebe Sylvia, von Herzen, dass du mein Geschenk annimmst und für deine lieben Worte!
Frohe Weihnacht
Michael
Ich habe ein wenig Kommentarverspätung, doch JETZT ist JETZT.
Diese Veränderung vom Beobachter zum Verschmelzen mit dem Objekt oder auch Subjekt der Betrachtung habe ich auch schon gelegentlich erlebt: beim Betrachten des Vogelfluges, bei Blumenblüten und einmal mit einer Schneeflocke, die auf meinem Handschuh landete, und plötzlich war es, als schaue sie mich an, wobei Ich als Ich gar nicht mehr ichbewußt war, sondern in einem Zustand der Seinsverbundenheit, den ich dann wiederum auch erst im Nachhinein wieder so persönlich formulieren kann.
Dies zu erleben empfinde ich als GESCHENK!
Herzensverbundene Grüße an Dich 💖
Wie lange braucht eine Schneeflocke, bis sie den Ort ihrer Bestimmung erreicht, einen Handschuh vielleicht oder auch einen Zweig? So lange sie eben braucht.
Und für einen Moment der GEGENWART werden wir dessen gewahr, wovon auch der Magier zu Arren spricht (https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/12/29/zwischen-den-jahren-2016/): Alles ist verbunden, wir halten einander im Gleichgewicht: Ich bin du.
„Seinsverbundenheit“, was für ein schönes Wort der Wahrheit und tragfähigen Perspektive! Küren wir beide es doch mal spontan zum „Wort des Jahres 2016“, bevor wieder die „Unwörter“ preisgekrönt werden!
Liebe Ulrike, ich danke dir für deinen RECHTzeitigen Kommentar und dass du mein kleines Geschenk angenommen und mir mit diesen Zeilen wiedergeschenkt hast.
Ich grüße dich höchst seinsverbunden,
Michael
Wie schön, daß WIR seinsverbunden miteinander harmonieren können.
Ja, ich finde ebenfalls, daß das Wort SEINSVERBUNDENHEIT als Zauberwort des Jahres gekürt werden sollte.
Ich danke Dir herzlich gerne, lieber Michael, für Deine Resonanz und die freundliche Verlinkung und füge anschließend noch das HAIKU an, welches ich damals nach dem Schneeflockeneinssein formuliert habe.
Mit verbindlicher Empfehlung
Ulrike
BERÜHRUNG
Auf meinem Handschuh
eine zarte Schneeflocke
die mich ganz kurz sieht
Ulrike Sokul ©
12/ 1995
Wow, und JETZT sieht sie mich auch!
Einundzwanzig Jahre später! JETZT ist JETZT!
Mit verbundener Empfindsamkeit 🙂
Michael
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