Nur einen kurzen Augenblick lang scheint sie überwältigt zu sein von der Erinnerung an den Unfall Lauras, den ihre große Schwester nicht überlebt hatte. Vier Jahre war das jetzt her, da war sie, Klara, neunundvierzig gewesen, ihre Schwester fünfzig … Unausgesprochen steht das Wort „überlebt“ im Raum, mitsamt dem Schrecken, von dem es umgeben ist in Klaras Geist, der sich seitdem unentwegt die Frage gestellt hat, was das sei: „das Leben“? Ein Leben nach dem Schrecken, ein Leben, nachdem sie dem Tod in den Rachen geschaut hat, ein Leben in einer Gewissheit, über die sie in dieser Klarheit vorher noch nicht verfügt – sie jedenfalls nicht auf sich selbst bezogen hat? Ist das noch Leben, wenn es von sich weiß, dass es sterben muss?
Dann aber lacht sie plötzlich auf, ihr Gesicht wird hell und froh, es strahlt, als wolle es mit seinem Licht jede dunkle Ecke der Welt ausleuchten und keinen Schatten mehr erlauben, der die reine Freude in Frage stellen könnte, die sie mit ihrer Schwester immer noch verbindet.
Da ist sie erst fünf, erzählt sie lachend, Laura sechs, und es soll wie gewohnt am Wochenende zu Opa auf den Hof gehen. Diesmal aber ist große Aufregung bei den Schwestern: Opa hat zwei Kaninchen gekauft, und die würden sie füttern und streicheln und sogar Namen würden sie ihnen geben dürfen.
Die beiden haben es kaum noch ausgehalten in den letzten Tagen und den Eltern mit tausend Fragen über Kaninchen in den Ohren gelegen. Aber jetzt ist es ja endlich soweit, das Auto rollt auf Opas Hof, während Laura und Klara mangels Kaninchen ersatzweise auf dem Rücksitz herumhopsen – „Wer-am-Dach-anstößt-kriegt-einen-Punkt“.
Opa steht schon da und deutet gleich hinters Haus, wo der Kaninchenstall steht – er kennt seine Enkelinnen nur zu gut und hat sich erst gar keine Begrüßung ausgemalt, die seine Person irgendwie einbeziehen würde – statt dessen drückt er den beiden Mädchen, die ihm aus dem noch rollenden Auto entgegenstürzen, ein paar Möhrchen in die Hand, welche sie verfüttern dürfen.
„Aber macht den Stall wieder gut zu!“ ruft er ihnen noch hinterher, da sind sie schon um die Ecke geflitzt.
Klara hält kurz inne in ihrer Erzählung und beschwört den Augenblick noch einmal herauf, als die beiden Schwestern die Kaninchen entdecken: „Ich war geschockt! Ich war total entsetzt!“ Sie lacht und lacht und kann sich gar nicht mehr beruhigen: „Es war ein schneeweißes und ein rabenschwarzes Kaninchen und ich dachte, Opa hätte vergessen, das schwarze sauberzumachen!“
Minuten später stehen sie mit einer aus Opas Badezimmer geklauten Shampooflasche an dem kleinen Brunnen, Laura muss pumpen, während Klara das schwarze Kaninchen gründlich shampooniert, um es genauso schön sauber zu kriegen wie das andere.
„Erst hat Opa ein wenig geschimpft, als er schließlich um die Ecke gebogen ist und das kleine Drama entdeckt hat, dann aber hat er gelacht und uns alles erklärt.“
Klara hört auf zu erzählen und schaut mich an. Ihre Lippen haben sich in vollkommener Wehrlosigkeit aufeinandergelegt, kein Wort muss mehr gesagt werden. Und in ihren Augen ist ein Sieg zu sehen, oder nein: eher eine schlichte Wahrheit, eine Art Erleichterung und vielleicht sogar eine Spur Stolz, der drohenden Überwältigung etwas entgegengehalten zu haben, was stärker ist als der Tod. Farbe Weiß.
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Niemand ist wirklich fort.
Danke & Lieben Gruß !
Was für ein Trost! Danke dir, lieber Reiner!
Danke lieber ❤ Michael❤️
für deine berührende Geschichte!
Herzlichen Dank, lieber Wolfgang!