
Der Tod war mir schon als Kind nicht ganz geheuer, also in einer Zeit, in der man so gar nichts oder doch zumindest nur sehr peripher mit ihm zu tun bekam. Die Katze, okay, die war mal gestorben, aber dann war auch gleich eine neue da, und dann war man eben eine Weile traurig, das kannte man schon ganz ohne Tod, wenn die Mama zu lange weg war oder so.
Nein, das Seltsame war, dass mit dem „Tod“ die Leute über etwas redeten, was so gar nicht fassbar war, nicht mal wirklich denkbar, alle Versuche endeten bei Krankheiten, beim Sterben oder irgendwelchen Vorstellungen von einem Weiterleben in einem Himmel, der aber auch nicht zu begreifen war. Wo soll das sein? Und wieso meldet sich da niemand mal, damit man in der Frage endlich entspannen kann? Zwischen all diesen vorläufigen Bildern des Lebensendes geisterte immer noch diesen Wort herum: „Tod“. „Nichts“ konnte es ja nicht sein, dann hätte es keinen Namen. Ganz selbstverständlich wurde der ausgesprochen von allen „normalen“ Menschen, zu denen ich wahrscheinlich nicht gehörte, denn ich konnte das Wort nicht denken ohne kreisrund-fragende Augen zu kriegen: Was soll das sein? Alle anderen schienen damit etwas verbinden zu können oder darunter etwas zu verstehen. Ich war damit hilflos und darunter platt wie eine Flunder, ohne den Athem, irgendetwas hervorzubringen zu können, nicht mal eine Phantasie.
Später hat sich das Phänomen der kreisrund-fragenden Augen eher auf Bereiche wie den der Mathematik verlagert. Obgleich ich ein ausgezeichneter Mathe-Schüler war, wenn man mal die Noten als Maßstab nimmt, hatte ich nie auch nur den geringsten Dunst, woher die ganzen Formeln kamen, mit denen ich da tolle Sachen ausrechnen konnte und wer das Patent auf sie hatte. Was der „Tod“ gewesen war, war jetzt die „Null“: ein unlösbares Mysterium.
Inzwischen habe ich mich, was meine ohnmächtige Frage angeht, keinen Millimeter weiterentwickelt. Nur, dass ich jetzt in Frieden mit dieser Ohnmacht bin.
Dass ich die Frage nicht beantworten kann, heißt eben nicht, dass sie unbeantwortbar ist. Aus „Punkt Null“ ist eine Art Offenheit geworden.
Dabei haben natürlich die vielen Male geholfen, bei denen ich dabei gewesen bin, wenn ein anderer gestorben ist. Das gegenwärtige Erleben hat, ganz anders als der konsumierende Anblick des „Todes“ in Fernsehberichten oder -filmen, die meine Beteiligung nicht vorgesehen haben, nie den Eindruck eines „Endes“ bei mir hinterlassen, sondern den einer Kontinuität, die einfach nur nicht fassbar ist im üblichen Sinn, nicht begreifbar, nicht sichtbar, nicht beweisbar.
Das aufrechte, sich selbst dabei zuschauende und miterlebende Sterben meiner Schwester hat unseren Vater vollkommen von aller Schuld freigesprochen und ihre zwei noch kindlichen Söhne als das Leben mutig und ungebrochen annehmende Erwachsene hinterlassen. Schon das ist ein starker Eindruck gewesen.
Als jetzt mein lieber Herr Q. gestorben ist, den ich drei Jahre lang als Demenzbetreuer begleitet habe, hat sich die frohe Ahnung, dass „Punkt Null“ eine Tür ist, die nach innen aufschwingt statt meinem Wissenwollensdruck folgend nach außen. Und dass, wenn ich auch nur einen kleinen Schritt zurücktrete, um dies zu erlauben, die Liebe selbst hereinkommt, um die Antwort auf meine Frage zu sein. Herr Q. hat den „Tod“ nie akzeptiert. Er hat schon seit einiger Zeit gewusst, dass er bald werde sterben müssen, aber in ihm hat es kein Konzept für so etwas wie den „Tod“ gegeben. Nur dieser „letzte Schritt“ im Körper, dessen Ablegen sozusagen, der ist ihm unheimlich gewesen, da hat er drum gebeten, ihn zu begleiten. Zum Dank ist er „danach“ noch einen Tag lang bei uns, die wir um ihn gewesen sind, geblieben und hat uns alle Angst genommen.
Der Tag des Sterbens von Herrn Q. hat nur Geschenke über uns ausgeschüttet. Und jetzt weiß ich im Herzen: Es gibt keinen Tod. Punkt Null ist die Quelle des Lebens, in der keine Unsicherheit exisitert über richtige oder unrichtige, gültige oder ungültige Formen. Und niemand von uns hat über diesen Punkt das Patent.
In dem Buch „Ich hab‘ auf dich gewartet, Bruder“, habe ich ausführlich über die Zeit mit Herrn Q. berichtet. Jetzt schreibe ich, wieder zusammen mit dem Co-Autor Gregor Geißmann, ein Buch über die Angst: „Wohin mit der Angst, Bruder?“ wird es heißen. Darin wird sich auch der Text finden, den ich über den Sterbenstag des Herrn Q. geschrieben habe, wieder in dem Gefühl, ihn gemeinsam mit ihm zu geschrieben zu haben: „Im Antlitz der Angstlosigkeit“.
Angst ist dazu da, geheilt zu werden, Freude ist dazu da, geteilt zu werden. In diesem Sinne hab ich dir geschrieben. Schön, dass du da bist!
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Ja, Kontinuität, so war das auch immer für mich erleb- und spürbar … herzliche Grüße!
Ganz Verwegene könnten jetzt auf den Gedanken kommen, dass es nach solchem Erleben gar nicht mehr nötig ist, über Schatten zu springen! 🙂 Herzliche Grüße zurück an die Springerin!