„Ich steh’ auf der Abschussliste!“, hat sie gerade eben noch gesagt, und jetzt schläft sie neben mir selig wie ein Kind, das Gesicht ganz entspannt und die Augenlider so sanft geschlossen, als schaue sie hellwach durch sie hindurch in eine glückliche Welt ohne Schmerz und ohne Sorge, ihr Atem so ruhig wie das leise Kräuseln an der Oberfläche eines tiefen Sees.
Zwei Stunden werden es wohl gewesen sein, die wir uns unterhalten haben auf der gemeinsamen Zugfahrt von Köln nach Hamburg, das Wetter, der Sommer, der mal wieder keiner ist, das Angenehme am Zugreisen und das Unangenehme, haben das Frühere mit dem Jetzigen verglichen und dabei das Frühere besser abschneiden lassen, und uns so die Zeit etwas verkürzt.
Es ist spürbar gewesen, dass sie sich vorgenommen hat, nicht über sich zu sprechen, wahrscheinlich, weil sie sich damit als aufdringlich empfindet, aber dann tut sie es doch. Es wird eine Erzählung, die eine dreiviertel Stunde lang anhält und bei der ich eigentlich nur zuhöre, habe ich zwei Dutzend Worte gesagt in dieser Zeit?
Als ihr Mann gestorben war, begann ihr Abstieg hinab zu dem Punkt, an dem sie jetzt steht. So empfindet und so erzählt sie ihre Geschichte, als einen Abstieg: das zunehmende Alleinsein, immer mehr Freunde und Verwandte um sie herum verlassen sie, und dann beginnen ihre Krankheiten, erst harmlos, dann ernster, schließlich bedrohlich: die Bauchspeicheldrüse hat sich gefährlich entzündet, nur mit hohem Aufwand ist das Problem in Schach zu halten, seit vier Jahren muss sie halbjährlich zur Untersuchung in eine Spezialklinik, auch heute ist sie dorthin unterwegs. Und jedes Mal die bange Frage: ‚Wie wird das Urteil der Ärzte lauten?’
Jetzt ist auch noch vor zwei Monaten ihre beste Freundin an genau derselben Krankheit gestorben, „und dann bin ich ja auch schon 84“. Das hat geklungen, als wolle sie sich entschuldigen dafür, dass sie überhaupt eine Krankengeschichte brauche, um auszusprechen, was ihr eigentlich auf der Seele brennt:
„Ich steh’ auf der Abschussliste!“
„Ich bin nur froh, dass es diese Liste gar nicht gibt!“, habe ich einfach nur gesagt, mehr ist mir im ersten Moment nicht eingefallen, und dann ist sie auch gleich eingeschlummert, so dass es dabei geblieben ist.
Auch jetzt – der Zug fährt gerade in den Hamburger Hauptbahnhof ein – frage ich mich, ob ich sie wecken soll, um ihr wenigstens zum Abschied „Alles Gute“ wünschen zu können, aber sie schläft immer noch so schön und ich weiß, dass sie erst in Altona aussteigen will – ich lasse sie schlafen. Leise stehe ich auf, packe meine Siebensachen zusammen und gehe als Letzter in der Schlange in Richtung Tür. Im Hinuntersteigen auf die obere der beiden Stufen drehe ich mich doch noch mal nach ihr um: da sitzt sie aufrecht an ihrem Platz und hat die Hand erhoben, wartend, ob sie noch Gelegenheit haben werde, mir zu winken. Ihr Gesicht strahlt, als sie mich nach ihr umdrehen sieht und heftig winkt ihre Hand, wie um die Zeit, die sie warten musste, aufzuholen, während sie mir durch die sich schließende automatische Zwischentür zuruft: „Alles Gute!“
Da bin ich schon draußen und denke, an der Wirklichkeit vorbei, aber heilfroh: „Jetzt hab’ ich es doch noch gesagt!“