„Da sagen sie ‚Klimaerwärmung’ zu!“, der Ältere der beiden schon betagteren Männer, die mit mir eine Schicksalsgemeinschaft bilden, zeigt auf die Wand aus strömendem Regen, welcher uns unter dem schützenden Dach einer Bushaltestelle zusammengeführt hat. Ich bleibe stehen, während sich die beiden Herren auf die kleine Plastikbank setzen. Sie sind, ich könnte jetzt sagen: „stark betrunken“, aber schon der Ausdruck wäre zu nüchtern, sie sind sternhagelvoll! Ihre Bewegungen werden längst von einem Geist kontrolliert, der weniger auf feinmotorisches Zusammenspiel denn auf unbeschränkte Freiheit für jeden Muskelimpuls, sich Richtung und Stärke selbst zu wählen, setzt. Ihre Kleidung – beide tragen sie Anzüge – ist aus feinem Tuch, hat jedoch bei ihrer gemeinsamen Reise durch die Nacht Ordnung und Würde in einem Maße eingebüßt, das durchaus Rückschlüsse auf die Intensität der zurückliegenden Ereignisse zulässt.
Väterlich hat der Redner einen Arm um seinen jüngeren Begleiter gelegt, und fügt hinzu, während er den anderen Arm immer noch ausgestreckt in Richtung auf den vor uns niederprasselnden Regen hält:
„Das ist die Wissenschaft!“
„Genau!“ antwortet der Umarmte in einem Ton, der durchklingen lässt, dass diese und ähnliche Betrachtungen schon die ganze Nacht hindurch angestellt worden sind und man bereits zu einem umfassenden Konsens hinsichtlich fundamentaler Einsichten in das Werden und Wirken der Welt gelangt ist.
Und so klingt es auch wie eine Zusammenfassung bereits ausführlich abgehandelter Themen, als die beiden noch einmal ausholen, um der Wissenschaft ihre Grenzen aufzuzeigen:
„Jetzt sagen sie, wir kommen gerade aus einer kleinen Eiszeit und erholen uns nur davon, das ist das Allerneuste!“, noch immer zeigt er auf den Regen, während der siamesische Kommentar des Freundes fugenlos ergänzt:
„Die rudern zurück, weil’s nicht klappt mit der Klimakatastrophe!“
„Die Wissenschaftler!“, jetzt erst scheint der Hauptredner seinen ausgestreckten Arm zu bemerken und zieht ihn verwundert zurück,
„die denken sich irgendwas aus, dann rechnen sie hin und her, bis es passt und verkaufen es uns am Ende als die Wahrheit!“
„Genau!“ Sein jüngerer Bruder im Geiste ist von dieser bedeutungsschweren Erkenntnis tief beeindruckt, löst sich aus der Umarmung seines Mentors, richtet sich auf und wendet sich ihm zu, um ihm mit dieser Geste den gebührenden Respekt zu zollen. Der so Geehrte bemerkt jetzt selbst die ganze Tragweite seines Gedankengangs, woraufhin er die gleiche Haltung annimmt wie sein Weggefährte, so dass die beiden sich nun anschauen wie zwei Männer, die etwas Großes erreicht haben.
So verharren sie eine ganze Weile, bis der Meister noch einmal anhebt, alles zusammenzufassen, alle Gedanken der Nacht zueinanderzuführen, das gemeinsame Gespräch auf einen, auf den Punkt zu bringen und in brüderlichem Einvernehmen mit seinem Gegenüber der Welt zu sagen, was sie im Innersten zusammenhält:
„Wir wissen nichts!“ sagt er langsam und bedeutungsvoll,
„rein gar nichts!“
Das beidseitige schwungvoll-begeisterte Zunicken daraufhin hätte zweifellos eine schwere Kollision der beteiligten Schädel zur Folge gehabt, wenn derselbe Geist, der die Bewegungen zu einem Glückspiel macht, nicht auch etwas Traumwandlerisch-Präzises mit sich bringen würde.
Und so sehen sie sich an, Stirn an Stirn, schauen sich abgrundtief in die Augen und sinken dann wie erlöst nach hinten um, der Eine im Arm des Anderen, um sich herum eine wenn auch olfaktorisch markante Aura höchsten Friedens: die letzten Fragen beantwortet, zu Ende gedacht, der Mensch an seinem Ziel.
Tief atmen sie die Regenluft ein und freuen sich an den Elementen, die ihnen keine weiteren Fragen mehr aufwerfen können, Alles ist Antwort, Alles Einklang.
Dankbar und demütig ordnen sie sich schließlich wieder ein hinter den großen Vertretern der geistlichen Verbrüderung, in der schönen Gewissheit, dazuzugehören:
„Wie spät is’ eigentlich?“
„So halb sechs durch.“
„Verdammt früh!“
„Der Papst steht immer so früh auf.“
„Der Dalai Lama auch!“ …
„Normal is’ das nix für mich, so früh!“
„Man hat mehr vom Tag …“
„Ich schlaf‘ lieber ’n bisschen länger …“
Als der Bus hält, schaut der Fahrer etwas enttäuscht durch die eigens für uns geöffnete Tür, da sein Angebot, die drei Wartenden in seine Obhut zu nehmen, auf so wenig Resonanz stößt: Zweie träumen den glücklichen Traum der Gerechten und der Dritte geht wieder hinaus in den nachlassenden Regen und weiter seines Weges.
( 03.08.2012 )