Warum!

In diesem einen Augenblick war ihm die Welt geborsten, hatte schlagartig ihren Zusammenhalt verloren und all seine Wahrheiten waren in ein Kaleidoskop unzusammenhängender Aspekte zersplittert, durchzogen von einem dichten Nebel der Angst, der sich da, wo eben noch seine Mitte, wo eben noch er gewesen war, zu einem stummen Strudel verdichtet und damit gedroht hatte, seinen Verstand in unauslotbare Tiefen hinabzuziehen. In diesem einen Augenblick, als er vollkommen unvorbereitet einen Gedanken zugelassen hatte, der mit der Stabilität seiner Weltsicht nicht mehr vereinbar gewesen war, unaushaltbar, undenkbar.

Aber er hatte ja standgehalten, … er? Nein, nein, nicht er, nicht er! Irgendetwas in ihm hatte, ja, hatte gebetet in diesem Moment, seit gut dreißig Jahren zum ersten Mal hatte es wieder  in ihm beten wollen, er hätte nicht einmal sagen können, zu wem oder was, „Gott“, hatte er dennoch geflüstert, „Gott“, als sei dies das einzige Wort, was ihm noch geblieben war, obwohl seit so vielen Jahren unbenutzt, belächelt, verachtet. Gott.

„Hilf‘ mir“ hatte er in dieses Wort hineingefleht, „lass‘ mich nicht in diese Schwärze stürzen!“ Und da war etwas Unglaubliches geschehen, unglaublich aus seiner bisherigen, gewohnten Sicht, die sich immer sorgfältig in den Grenzen der Vernunft aufgehalten hatte und auch aus der jetzigen, das musste er sich eingestehen, aus einer Sicht,  die bereits auf diese ungewöhnliche Erfahrung zurückblicken konnte, die er vor nicht ganz zwei Stunden erst gemacht hatte. Es war ihm, als habe er erstmals in seinem Leben erfahren, was Normalität sei, so schlicht, so einfach, so natürlich war  ihm  erschienen, wozu er jetzt, wenn er ehrlich sein wollte, wieder „unglaublich“ sagen musste.

Behutsam drückte Rolf die Hand seines Sohnes, er schlief ganz fest, und das war gut so.  Er würde überleben, endlich hatten die Ärzte sich festgelegt: „außer Lebensgefahr!“ Und nicht nur das, sie sagten, es sei zu erwarten, dass der Junge körperlich  vollständig wiederhergestellt sein werde. Rolf richtete sich unwillkürlich auf. Was für ein Glück!  Körperlich. Wenigstens das. Nein, nicht wenigstens. Er spürte die Dankbarkeit in sich groß werden und konnte und wollte diese Einschränkung einfach nicht stehen lassen: Timmy würde es schaffen, zusammen mit seiner Familie, er würde wieder froh werden, sie würden es schaffen, gemeinsam!

„Ich hab‘ dich da einsteigen lassen, verzeihst du mir?“ fest umschloss die Hand des Vaters die seines Sohnes und seine wortlose Frage floss widerstandslos als Antwort zu ihm zurück, als sei sie schon immer ebendiese Antwort gewesen.  Rolf merkte, wie ein Lächeln sich in ihm ausbreitete und die Bilder der Ereignisse an diesem Lächeln vorbeizogen, als sei es die notwendige Bedingung für ihr Auftauchen, der einzige Boden, auf dem sie Halt finden konnten.

Eigentlich hatte er selbst die Fahrt mit dem Ferrari gewonnen, auf einer Werbeveranstaltung eines Autohauses, das mit solchen 500-Ps-Autos handelte. Aber als Timmy ihn sehnsüchtig angeschaut hatte, da war er zu dessen Gunsten zurückgetreten und hatte ihn mitfahren lassen. Timmy war außer sich gewesen vor Freude, sie hatten gelacht und triumphierend abgeklatscht, als er eingestiegen war …
Der Geschäftsführer des Autohauses war selbst am Steuer gewesen, er hatte, ebenso wie der Fahrer des entgegenkommenden Kleinwagens, den Unfall nicht überlebt. Drei Stunden lang hatte Timmy neben dem sterbenden Mann liegen müssen, bevor sie ihn hatten aus dem Wrack herausschneiden können, drei Stunden! – und niemand konnte bisher sagen, wie schwer die Last sein würde, die sich da auf seinen Jungen, auf diese zarte Seele gelegt hatte.

Rolf zog behutsam die Bettdecke glatt und dachte an den Moment, als die Unglücksnachricht die Feiernden im Autohaus erreicht hatte: da war zunächst nur der Schock gewesen, Ungewissheit, das Bangen um Timmys Leben.
Ja, es war tatsächlich erst am nächsten Tag gewesen, erst da war der Schrei der Anklage in ihm aufgestiegen und hatte sich Luft machen wollen, rasend war sie gewesen, diese Anklage an das Schicksal, die sich ein Opfer gesucht und es auch schnell gefunden hatte: Der Fahrer, noch keine dreißig Jahre alt, hatte seinem Sohn wohl einfach nur imponieren wollen, war viel zu schnell gefahren, hatte alle Sicherheitssysteme des Wagens ausgeschaltet und war auf regennasser Fahrbahn ins Schleudern geraten. Rolf konnte Timmy nicht anschauen, als die Bilder wieder an ihm vorbeizogen und für einen Moment fühlte er erneut eine wilde Erregung, die sich seiner Emotionen bemächtigen wollte, aber als er jetzt doch wieder die Hand seines Sohnes nahm und ihn anblickte, wie er friedlich dalag und schlief, legte sich der drohende Sturm, bevor er noch richtig aufgekommen war. – Der Schuldige hatte also sofort festgestanden.  Jedenfalls hatten die ersten Ermittlungen in diese Richtung gewiesen und Rolf war nur zu bereit gewesen, dahinter einen Punkt zu machen: so musste es gewesen sein! Zeugen hatten schließlich noch das ohrenbetäubende  Aufheulen des Motors gehört, Sekunden vor dem Knall! Die in ihm immer mächtiger werdende Ohnmacht, diese explosive Mischung aus Angst, Schuld und Zorn, hatte einen Kanal gefunden, durch den sie sich hatte entladen können und Rolf hatte nicht eine Sekunde gezögert, sie sofort auf den Todesfahrer abzufeuern, noch enthemmt davon, ihn  als willenloses Material in den Händen der Gerichtsmediziner zu wissen. Hatte nicht auch das Schicksal beschlossen, den Schuldigen die Rechnung bezahlen zu lassen für das, was er seinem Sohn und seiner Familie angetan hatte? Mit einem leisen Staunen betrachtete Rolf jetzt diesen seinen Gedanken, der ihm noch gestern gerecht erschienen war und der ihm  wieder Stabilität und eine Art Zutrauen verliehen hatte.

Heute Morgen, Timmys Zustand hatte immer noch als lebensbedrohlich gegolten, hatte es diesen einen Moment gegeben, in dem plötzlich alles anders gewesen war. Nicht mehr als ein Tag war vergangen, und schon das war für Rolf unfasslich, nur ein Tag zwischen dieser Rechnung, die er mit dem Schicksal aufgemacht hatte und …
Es war das Gefühl in ihm aufgekommen, eine kurze Auszeit zu brauchen, einen Augenblick des Nachdenkens, und er war zum Fluss gegangen, war schließlich unter seiner vertrauten Birke gestanden und hatte zunächst einfach nur dem Spiel der kleinen Wellen zugeschaut, die sich ineinander brachen, als plötzlich diese Anklage – er war sicher davon ausgegangen, dass sie ihr endgültiges Ziel bereits gefunden hätte, was ihn ja erst in diese Ruhe versetzt hatte, in der er hierher gekommen war – diese Anklage hatte plötzlich und unvermittelt ihre Richtung geändert, wie eine fehlgesteuerte Rakete hatte sie eine Kehrtwende gemacht und war auf eben den zugeflogen, der sie abgefeuert hatte. Und sie war in ihr Ziel eingeschlagen, noch bevor der Gedanke an eine Abwehr überhaupt in ihm hatte aufkommen können.
„Ich hab‘ dich da mitfahren lassen“, nur dieser Satz.
Und die Welt war ihm geborsten. Mit einer Klarheit, die nur der Gewissheit eigen ist, hatte er gesehen, wie all sein Zorn nur eine wirkliche Absicht gehabt hatte: von dieser Selbstanklage abzulenken.: ‚ich hab‘ dich auf dem Gewissen, ich hätte überprüfen müssen, ob der Fahrer reif genug war für eine solche Verantwortung, Timmy, ich hätte … selbst mitfahren sollen, ich … vielleicht‘ – und da war dieser undenkbare Gedanke aufgetaucht und hatte alles, was für ihn bisher gegolten hatte, gesprengt  – ‚vielleicht hab‘ ich dich, oh nein!, vielleicht hab‘ ich gespürt, dass er zu jung war, zu unreif … ich hab’s doch gemerkt, ich hab‘ doch geahnt, dass es gefährlich werden könnte …vielleicht hab‘ ich dich deshalb …‘

Dieser Moment.

Das Gebet war von irgendwoher gekommen, eigentlich war da niemand mehr gewesen, der noch hätte beten können, aber er hatte es wie einen ersterbenden Atem aus sich herausgeflüstert: „Hilf‘ mir, Gott, lass‘ mich da nicht hineinstürzen!“, und war doch gestürzt, kein Gott, der ihn vor diesem Sturz bewahrt hätte, er war …

Zärtlich strich er Timmy über den Arm. Nein, kein Gott, der ihn zurückgehalten hätte, er war … sozusagen durch sich selbst hindurchgefallen, als würde er noch die Wurzeln der Birke sehen, den Grund des Flusses, war er weiter gefallen und weiter, hatte sich verloren, gänzlich verloren und war doch … war aus ungekannten Tiefen wieder aufgetaucht und –  „Wer? Was soll ich hier?“ – hatte unter der Birke gestanden, in den Abendhimmel geschaut und wieder die murmelnden Geräusche des Flusses wahrgenommen.
„Antwortest du so, Leben, Gott, wie soll ich Dich nennen?, antwortest du so, wenn man dich wirklich fragt? Antwortest du immer für alle und alles gleichzeitig?“ Die Frage war in ihm aufgestiegen, ohne dass er das geringste Bedürfnis gehabt hätte, sie zu beantworten, denn die Antwort hatte ihn irgendwie umgeben, stark, unendlich stark hatte er sich gefühlt, aber diese Art Stärke, das war … anders gewesen, nichts Körperliches, nichts … Eigenes … und dennoch seine ureigene Stärke, so war es ihm vorgekommen, etwas Unbekanntes und doch Urvertrautes, seine und die Stärke der Birke, die des Wassers, des Abendhimmels und ja, und da hätte er jubeln können vor Freude: es war auch die Stärke Timmys, gleichermaßen, gleichermaßen! Er würde leben, sein Sohn würde leben! Das hatte er in diesem Moment gewusst. Und es war ihm wie etwas ganz Selbstverständliches, etwas Einfaches, Schlichtes, Normales erschienen, etwas, das zu bezweifeln Wahnsinn gewesen wäre.

Auf dem Weg hierher zurück aber waren seine Gedanken zurückgekehrt zu dem Fahrer, den er als den Schuldigen auserkoren hatte und auch zu seiner Rolle in dieser Tragödie, und die Fragen waren wieder aufgekommen und hatten sich um die eine große Unbeantwortbarkeit des ‘Warum?’ geschart.
Die Antwort, die ihn ganz erfüllt hatte, die größer gewesen war als alle Fragen und in der auch dieses „Warum“ keinen Griff gehabt hatte, nicht einmal einen Boden, auf dem es sich hätte aufrichten können, diese Antwort war wieder blasser geworden, die Fragen hatten wieder die Dunkelheit zurückgebracht, welche ihm, so unglaublich das war, wie sollte er das sagen? – die ihm gerade noch unmöglich, widersinnig, unwirklich erschienen war.
Jetzt, da er seinen Sohn wieder anschaute und dessen Hand hielt, war das „Warum?“ wieder da.
Und dennoch fühlte er so etwas wie einen Entschluss, etwas Existentielles, Unkündbares in sich: er würde diese Antwort nicht vergessen, nie mehr ganz vergessen, diese Art Stärke, dieses Wissen, das nicht aus ihm gekommen war. Vielleicht durch ihn, durch die gesprengten Fugen seiner kleinen Welt, aber nicht von ihm, wie er hier saß und wieder nach einem „Warum“ fragte. Und ja, sie war ja auch noch zu spüren, in der Tiefe der Berührung ihrer Hände, in diesem schweigenden Gespräch mit seinem Sohn, da war sie noch zu spüren, verdammt noch mal!, da war sie noch zu spüren!

 

*

8 Gedanken zu “Warum!

    1. Das ist sehr schön für mich, von dir diese Antwort zu lesen. Dann hat sie sich vermittelt, diese Kraft, die immer da ist, aber erst spürbar wird und zum Tragen kommt, wenn wir mal ein bisschen zurücktreten, still werden, sie durchlassen. Unaufgeregt und dankbar, dass wir getragen sind. Und verbunden miteinander. Worte sind oft schwer zu überwindende Barrieren vor dieser inneren Stille, wenn ich leise genug war mit ihnen, würde mich das sehr sehr freuen. Danke dir, liebe Marion!

      1. Tiefe schöne Worte, lieber Michael.
        „Unaufgeregt und dankbar, das wir getragen sind“ ein wunderbar tragender Satz!
        Und erstaunt stelle ich fest, dass mein heutiger Findesatz einen ähnlichen Gedanken birgt. Das Stille, das Leise ist es, was stark wirken kann und uns diese Kraft spüren lässt.

  1. Und einmal mehr habe ich mir Ihre Worte zur rechten Zeit aufgespart, mein lieber Herr Alltagsphilosoph. Müde, wehhändig und -füßig, leergetrostspendet schier, ist es, als greife ich zu dem Blaubüchlein und werde selbst getröstet. Diese Worte gehören eigentlich in einen Brief, doch für heute mag ich die Feder ruhen lassen. So hinterlasse ich ein schlichtes Danke für diesen Trost. Anmaßend wäre der Wunsch nach weiteren gedruckten Blautrostworten und doch hinterlege ich ihn. Sanftanmahnendeigennützige Grüße, Ihre Frau Knobloch, tagwerkzerranscht.

  2. Was letztlich tröstet, ist Verbundenheit, etwas, was nicht von uns zu kündigen ist, auch wenn wir immer wieder so tun, als könnten wir es und das wie einen Stolz handeln. Im „Findesatz“ lese ich heute einen Satz von Ihnen: „Da konnte ich die Komposition in meinem Herzen korrigieren“, geheimnisvoll und wahr: wir können uns erinnern! Wir können uns korrigieren.

    nicht blau, aber herzlich grüßt
    Ihr Alltagsverbundener

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