Weihnachtssegen

Im priesterlichen Gewand stehst Du vor mir und hebst Deine Hände, um mich zu segnen.

„Brauchen wir Gott?“, fällt mir ein, der Titel der neuen „Geo“, und darunter gleich die Antwort der so Befragten: „Eher nicht!“, köstlich! Ein Hintertürchen lässt man sich eben doch gerne mal offen, wenn man mit dem Zeitgeist trompetet: wir können allein, und wir sind stolz drauf!

Ich hab‘ Dir ganz gerne zugehört: Weihnachten, wie das zu denken sei, Ostern, das ganze Bild, Deine Lesart. Militärpfarrer seist Du, hör‘ ich später, nur ausgeliehen von der kleinen Dorfgemeinde, Du hast nachgedacht, scheint mir, das sind keine Phrasen, Deine Ideen, wie man das Verhältnis von einem Gott zum Menschen verstehen könnte.

Aber die Frage ist eben: brauchen wir Gott überhaupt? Können wir das Leben nicht selbst?

Ich nicht. Jedenfalls kann ich nicht singen. Erfreulicherweise gibt es beim Mitsingen von Kirchenliedern die Möglichkeit, speziell in prallvollen Kirchen, die gesungenen Töne sozusagen bereits in der eigenen Aura kollabieren zu lassen, so dass sie die Gehörgänge der Mitanwesenden erst gar nicht erreichen und sie so zu Mitleidenden machen können. Peinlich, aber das hat heute weder Dir noch mir gelingen mögen. Hör‘ mal, Du singst aber auch, bei allem Respekt: grottenschlecht!! Ein lautloses Lachen hat sich zwischen uns ausgebreitet, zwischen mir und meiner zufälligen Banknachbarin für eine Stunde, und sofort haben wir uns geeinigt: raus damit, die Welt soll uns hören! „Es ist ein Ros entsprungen“, und zwar volle Kanne! Man staunt ja immer wieder: wir haben trotzdem bleiben dürfen!

Wer bist Du, dass Du mich segnen darfst? Es ist ein Teil des Rituals, wie oft hab‘ ich es als unangenehm empfunden, uninspiriert, als leere Geste, und arrogant obendrein, wer darf sich das herausnehmen? Deine Hände aber, das fällt mir auf … das ist mehr als nur eine Geste …. da steckst Du irgendwie drin, mit dem, was Du sagst und meinst: „Er will uns unter die Haut gehen!“ Du sprichst von Gott, und ich bleibe an diesem Ausdruck wie kleben, „unter die Haut“.

Gestern, als wir Dich im Krankenhaus besucht haben, wo Du seit Deiner Hirnblutung liegst. Es scheint Dir nicht schlecht zu gehen, du erkennst uns, zweifellos, und es gibt Wörter, die Deine Augen kurz leuchten machen, „Weihnachten“ gehört dazu und „Mohnklöße“. Und ja, tatsächlich: Du winkst uns, als wir tschüss sagen und gehen!

Das ist mir allerdings ziemlich unter die Haut gegangen.

Und am Abend, wie Du weinst, als Du Dich erinnerst: wie Du als kleines Mädchen ohne Essen warst, Kriegskind, Vertriebene, nur noch Haut und Knochen, das rechte Ohr entzündet, Höllenschmerzen – wie Du weinst, weil Dich etwas überwältigt, was Du in den über sechzig Jahren danach nur hast überdecken, nie ganz hast heilen können: die Furcht, dass jenseits der eigenen Macht jederzeit der Lebensfaden zerrissen werden könnte von, von ….

Diese ungeheilte Angst, die auch, die ist mir auch unter die Haut gegangen.

Natürlich Du. Du gesellst Dich zu mir bei diesen Gedanken, Du, die Du lange schon Weihnachten nicht mehr mit mir feierst. Und schaust mich gleich ziemlich schräg an: oh Bruderherz, Du denkst das immer noch? Dass ich Weihnachten nicht mit Dir feiere? Ja, Du, Du weißt es besser.

Und noch ein Bild steigt in mir auf, als ich Deine Hände sehe, die mich segnen wollen. Vielleicht das stärkste Bild, das mir jemals vor Augen gekommen ist, das ist sehr subjektiv, natürlich, aber ich bin immer noch überwältigt in der Erinnerung, viele Jahre ist das ja jetzt schon her: Da hast Du als Richter in einem Kriegsverbrechertribunal gerade das Urteil gesprochen, über einen vielleicht 25-jährigen Mann, der Schreckliches getan hat, Tausende hat er getötet, Kinder darunter, im Wahn, im Rausch, in nicht zu bremsender Arroganz vor dem anderen Leben: der Angeklagte sieht sich selbst so, fordert die Strafe, will nicht geachtet sein, hat sich längst selbst verurteilt. Er sei ein Wahnsinniger, sagt er, und hat keine weiteren Worte mehr. Und Du sprichst jetzt das Urteil, das nach Menschenmaß gerechte Urteil, und dann ist der Fernsehbericht auch schon vorüber, der Abspann läuft, der Ton ist schon weg, als man eben noch sehen kann, wie Du, unglaublich, wie Du Deinen Richterstuhl verlässt und hinuntergehst zu dem Täter – und ihm Deine Hand reichst.

Da bist Du mir vielleicht zum ersten Mal wirklich unter die Haut gegangen, denn verstanden hab‘ ich das nicht, aber erkannt.

Gott. Ich sage für mich: ich brauche Dich! Als Brücke über unsere Furcht und als unsere eigentliche Verbindung. Ich brauche Dich, um glauben zu können. Bei allem, was wir an unterschiedlichen Räumen mit Leben anfüllen, mehr oder weniger verstrickt in unsere Irrtümer, eins will ich ganz sicher nicht mehr glauben: dass ich den Lebensfaden mit meinem kleinen, urteilenden Verstand in der eigenen Hand halten könnte. Das macht ihn erst zerreißbar! Wo anders könnte Angst herkommen? Und das will ich auch nicht mehr glauben: dass es irgendeine Etage der Angst gibt, die für ihre Heilung unerreichbar sein könnte. Den Lebensfaden, ich geb‘ ihn Dir zurück, und gerne, jetzt, immer wieder.

In diesem Sinne, und nur in diesem, nehm‘ ich auch Deinen Segen an, Priester, durch Deine Hand, aber aus Seiner Wahrheit.

Als die obligatorische „Stille Nacht“ gesungen ist, und ja, die Orgel, wow!, die war auch schlecht drauf heute, du meine Güte!, schauen wir uns an und das Lachen wird breit und laut: haben wir gut gemacht, unbekannte, vertraute Mitsängerin, haben wir gut gemacht!! Frohe Weihnacht!

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16 Gedanken zu “Weihnachtssegen

  1. Du hast das Du gefunden, lieber Michael, mit vielen verschiedenen Aspecten. Aber stets das eine selbe Du begeg’net Dir, nicht verschiedene Personen, Rollen oder Masquen. Schön! Bald ist das Du gänzlich heil und Du mit ihm und es ist somit EINS mit Dir.

      1. „Ich findet“: es in der dritten Person zu nennen, kommt mir wunderbar vertraut vor, mein Lieber! Und, aber ja, im Du ist das Selbst, welches das selbe Wort wie das ‚Selbe‘ ist: Der Ego-Zeit-Ungeist mag darüber hohnlachen, aber Du und Dein Nächster, ihr seid EINS und somit im Innersten selbig.
        Bis später!

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