Wer in der Großstadt lebt, kennt die Szene: er nähert sich mit seinem gerade für viel Geld in einer Waschanlage gesäuberten Auto einer ampelgeregelten Kreuzung, muss bei Rot halten, und wird von einem dort wartenden Mitmenschen freundlich gefragt, ob er die Windschutzscheibe des Wagens putzen dürfe. Die Frage wird meist so gestellt, und so ist es auch jetzt, dass dem Fahrer, also in diesem Falle mir, schon aus größerer Distanz ein professioneller Scheibenabzieher hin – und herfragend entgegengehalten wird, aus dessen Schwammseite lustig das Seifenwasser tropft.
Ich muss zugeben, dass ich zumeist ablehnend auf diese Frage reagiere, und zwar, wenn ich ehrlich bin, aus der Erfahrung dessen heraus, wie in aller Regel mit meinem „Nein“ umgegangen wird: es hat, und so ist es auch diesmal, keinerlei Konsequenz, man kommt auf mein Abwinken hin weiter fragend und wedelnd auf mich zu. Diesmal ist es eine junge Frau, hübsch und in einem farbenfrohen Kleid, die mich im Näherkommen unter ihrem Kopftuch her nett anlächelt, wenn auch, so empfinde ich es, aus einem vollkommen verschlossenen Gesicht heraus. Ich wiederhole mein „Nein“ und bewirke wieder nichts, sie kommt weiter auf mich zu. ‚Jetzt malt sie mir gleich ein Herz auf die Scheibe‘, denke ich und da ist sie schon da und malt mir ein Herz auf die Scheibe. ‚Dazu kannst du ja gar nicht „Nein“ sagen‘, heißt das Herz, wie oft hab‘ ich das schon so erlebt! Man fühlt sich, gelinde gesagt, überrollt. Nein ist nein, oder? Mein Wagen ist frisch gewaschen! War das jetzt eine Frage oder soll ich hier irgendwie gezwungen werden? Solche Gedanken.
Was soll ich sagen. Das Herz, es ist, als sei es nicht außen, sondern innen auf die Scheibe gemalt mit seinen leise platzenden Seifenbläschen. Diesmal hat das Herz tatsächlich recht: ich kann einfach nicht „Nein“ zu ihm sagen. Unmöglich. Ich lasse die Seitenscheibe herunter und gebe einen Euro in ein ganz und gar unverschlossenes Lächeln hinein.
Was danach kommt, ist allerdings ganz anders: sofort sind vier, fünf andere Frauen da, die mir ihre Hände entgegenstrecken, sogar durch das Fenster hindurchlangen, und ich sehe, wie sie untereinander auf meine Geldbörse deuten, die auf dem Beifahrersitz liegt. Das Gefühl, das ich dabei bekomme, ist mir in dieser Form absolut neu: so distanzlos und sozusagen an mir vorbei gierig auf Geld schauend habe ich tatsächlich Menschen in einer direkten Begegnung noch nie erlebt.
Es fröstelt mich. Ich muss los, es ist Grün, ich schließe das Fenster.
Einen Moment lang bin ich wirklich traurig: so schön das eine, so deprimierend das andere Erlebnis. Aber dann denke ich: Verschlossenheit und ihre Ausdrucksweisen dem gegenüber, dem der Ausschluss gilt, ist die Krankheit unseres Geistes, und das ist wahr für uns alle, auch für mich!, sie ist nicht nur eure spezielle Unart. Dieser eine unverschlossene Moment hat uns doch beide geheilt: dich und mich, das ist doch, was zählt!
Und also weiter!
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Das ist eine Geschichte, die in meinen Augen ganz deiner Art entspricht, eine „Michael-Geschichte“ sozusagen.
Ein Erlebnis, das alltäglich sein könnte. Doch du hebst es heraus, füllst es mit besonderen Gedanken und nimmst es zum Anlass, etwas über uns und das was uns umgibt zu erfahren. Ein Blickwinkel, der sich dem Starren und Oberflächlichen entgegen setzt, mit dem viele durch den Alltag eilen. Der Halt macht für einen Moment und uns in uns selbst blicken lässt. Du hast dieser Geschichte den Titel „Unverschlossen“ geschenkt. Deine Geschichten schließen auf, lieber Michael.
Wie mich deine Worte freuen, Marion, ganz herzlichen Dank dafür!
Michael