„… Und sie haben mich alle einfach fallen lassen, wenn sie nicht mehr weitergewusst haben, so hab‘ ich das empfunden!“ Das ist es, was sie runterzieht wie ein Strudel und nicht mehr loslässt, bis ihr die Luft und der Lebensmut beginnen knapp zu werden. „Kein erklärendes Wort, schon gar kein entschuldigendes, niemand hat wirklich mit mir gesprochen, ich bin jedesmal einfach weitergeschoben worden“: „Wir können es nicht mehr ändern, Sie haben die Risiken gekannt, und Sie haben Ihre Einwilligung unterschrieben!“ Das hört sie, und sonst nichts.
Es beginnt mit einer einfachen Arthrose im rechten Knie, der späten Auswirkung eines kleinen Unfalls, welcher zwanzig Jahre zurückliegt. Die erste Operation misslingt, nach der zweiten infiziert sich das Gelenk, was einen monatelangen Krankenhausaufenthalt zur Folge hat. Dann muss sie mühsam wieder Gehen lernen. Die lange einseitige Belastung zerstört die Hüfte, eine künstliche muss eingesetzt werden. Ein Zahnarzt hält es nicht für notwendig, bei einer Zahnentzündung ein Antibiotikum zu geben, die Keime gelangen in die Blutbahn und infizieren wiederum das Knie, daraufhin liegt sie ein dreiviertel Jahr mit einer riesigen klaffenden Wunde im Krankenhaus. Es ist von Amputation die Rede. Schließlich wird das Bein nur versteift, ein rechtes Kniegelenk hat sie jetzt nicht mehr. Einsetzende massive Rückenschmerzen führen zu mehreren Operationen, deren Notwendigkeit fragwürdig bleibt und von denen keine auch nur die geringste Linderung ihrer Schmerzen bringt, ganz im Gegenteil, sie werden unaushaltbar.
„Ich bin wie über ein Fließband geschoben worden, mehrere Jahre lang. Und niemand von denen, die mich behandelt haben, hat in der ganzen Zeit auch nur ein einziges gutes Wort für mich gehabt, Verwandte hab‘ ich nicht mehr, ich bin ganz allein, wissen Sie!“
Da ist sie fast am Ende ihrer Kraft. Und in dieser Situation trifft sie den, von dem sie jetzt sagt, dass er ihr Retter sei, ausgerechnet der, der den vielleicht größten Fehler macht: Er operiert sie erneut, um Verwachsungen zu lösen, die aus den Narben der vorangegangenen Operationen resultieren und nach seiner Meinung die Schmerzen wesentlich mitverursachen.
Dabei durchtrennt er versehentlich einen wichtigen Nerv, irreparabel. Ihr bislang gesundes linkes Bein wird davon taub und nahezu unbrauchbar.
Dieser Arzt aber bekennt sich zu seinem Fehler. Er ist am Boden zerstört und zeigt das auch, es tut ihm einfach entsetzlich leid, dass er dieser Frau nur mehr Schmerzen zugefügt und sie endgültig in den Rollstuhl gebracht hat, statt ihr geholfen zu haben. Er spricht von sich aus die Möglichkeiten einer Klage gegen sich an, um wenigstens einen finanziellen Ausgleich zu erwirken. Und er verspricht ihr, dass sie mit allen Fragen und Problemen, die sie haben wird, jederzeit zu ihm kommen kann.
Der Strudel verliert seine Kraft und sie taucht auf. Sie verzichtet auf eine Klage. „Ohne ihn hätte ich den Mut verloren“, sagt sie, diesen Mann kann ich nicht verklagen. Manchmal ruft er sie an und erkundigt sich nach ihr. Sie ist auch schon bei einigen Vorträgen mit dabei gewesen, in denen er ihren Fall als Beispiel fehlerhafter Behandlung vorgestellt hat. „Es kann ja passieren“, sagt sie, „wir machen alle Fehler, auch große“.
Den wesentlichen Fehler aber haben sie beide nicht gemacht: sie haben die Gelegenheit nicht ausgelassen, zu vergeben!
*
Puh … das ist ja ne Story! Schön zu wissen, dass dieser Mann nicht nur Arzt, sondern auch Mensch ist. Trotzdem hätte der Frau eine finanzielle Entschädigung vielleicht gutgetan.
Ich glaube, sie wollte sich den für sie lebenswichtigen Kanal, der sich da für sie geöffnet hatte, nicht mit Geld verlegen.
Ich geb‘ dir natürlich recht, idealerweise kann aufrichtige Zuwendung und finanzielle Hilfe ja Hand in Hand gehen, aber wenn da eine Klage dazwischen ist … . „Das andere“ war ihr jedenfalls wichtiger.
herzlichen Gruß
Michael
Ich glaube, da sind sich zwei große Persönlichkeiten begegnet. 🙂
Das ist wieder eine „Michael-Geschichte“, wie ich sie gerne nenne, deren Ende etwas Tiefes auslöst, ein „Puh, wow – ja, das ist es.“ Du findest Worte, die bewegen.
Und ich glaube, du bist jemand, dem kann man sein Leben erzählen, wie diese Frau es gemacht hat.
Nun erzähl‘ schon! … 🙂 😉 🙂
Herzlichen Dank, liebe Marion, für deine Worte,
Dein heutiger Findesatz hat mich glaub‘ ich etwas schubbidu werden lassen!
https://mbeyersreuber.wordpress.com/2015/09/22/22-september-2/
schubbidu werden werte ich als gutes Zeichen, lieber Michael 🙂 Und das hält manchmal lange an…
Ich kann leider die Geschichte nicht
schön finden, das die doch schrecklich
ist .Am schlimmsten ist ,das so was
täglich passiert.
L.G.
Ich dagegen finde es schön, dass es hier keinerlei Schönfindzwang gibt!
Sei herzlich gegrüßt,
Michael
Natürlich. Jedoch die Art und Weise
wie du das geschildert hast ist oberste
klasse .
Noch ein Grüß : )
Das finde ich nun wieder oberschön! 😉
Gerade noch bei Frau Maribey rumgeschwurbbeldiwuppt, wartet hier wieder eine dieser Aberjadochgeschichten des geschätzten Michael.
In dieser leistungsorientierten Gesellschaft verlernen viele, wieviel Persönlichkeit im Zugeben von Fehlern steckt. Das barsche Beharren und die fehlende Bereitschaft zur Bitte um Entschuldigung, sie verursachen die Kälte und Ignoranz die uns so ratlos zurückbleiben läßt.
Danke für dieses Lehrstück mal wieder, lieber Michael. Und natürlich die allerherzlichsten Grüße.
Ihre Käthe, herzoffen zugeneigt.
Aberjadochgeschichten, unverkennbar: Frau Knobloch! Sie können in ein Wort packen, wofür andere einen ganzen Aufsatz brauchen. Herrlich!
Vielen Dank für Ihre Worte,
Michael, stets auf der Suche nach dem Land hinter dem „aber“.
Nee, das nehme ich Ihnen nicht ab! Schauen Sie sich doch bitte mal um, wo Sie sich ganzherzig befinden, lieber Michael. Sehen Sie da die Bergkette des Glaubensgebirges, linksseitig fließt der Ewigkeitsfluss und vor Ihnen erstreckt sich die Wiese der Wissensblumen mit Kraftkräutern drin.
Sie befinden sich ganz, ganz gewiß bereits im Aberjadochgeschichtenland!
Liebe Grüße dorthin, die ihre, dankbar zugeneigt.
Oh, wenn Sie wüssten! Ich bin ein Sucher, gelegentlich auch ein Finder, aber ein Sucher! Und einverstanden damit. Einfach weitergehen, heiter und im Vertrauen, ist die Devise.
Ihr Bild aber ist wirklich schön und ich danke Ihnen dafür.
Mit Tiefstverbeugung,
Michael
Im Aberjadochgeschichtenland sind wissende Sucher wie Sie kwasi geboren und teilen freigiebig den unerschöpflichen Fundus, der ihnen dort zu Füßen liegt. Und das ist ganz schön fabulös, mein Lieber!
Schönstfreitagsgrüße, immer die Ihre.
Dann streich‘ ich hier argumentativ erst mal mit roten Ohren die Segel, kwasi.
fabulierend, Ihr Michael
Diese Erzählung beeindruckt mich, berührt mich, bewegt mich…
Die darin enthaltene Menschlichkeit, die Gnade der Vergebung, die bis zur Dankbarkeit führt, der Mut zur Wahheit und die Quelle der Liebe, die daraus fließt… trotz und in allem Schmerz. Denn genau dort, da wo der Schmerz ist, wird die Liebe oft besonders erfahrbar… Danke für diesen Text !
Diesen Mut und diese Gnade, die daraus erwächst, wünsche ich uns von Herzen.
Liebe
„Liebe Grüße “ sollte es am Ende des Kommentars natürlich heißen 😉
Da wollte nach deinem schönen Kommentar die Liebe wahrscheinlich das tun, was sie am liebsten tut: sich unabhängig machen von speziellen Geschichten um sie – und sich über alles ausbreiten! 🙂
Herzlichen Dank für deine Worte!
Sehr liebe Grüße
Michael
Och, ist DAS ein schöner (und so wahrer) Gedanke, liber Michael!
Möge die Liebe sich fühlbar über alles ausbreiten – heute und immer!
Ganz ❤ – liche bunte Herbst-Grüße und Wünsche für einen LIEBEvollen frohen Tag schickt dir und allen LeserInnen hier
Marina 🙂
Was man hier im Internet so alles findet. Was für eine zu Herzen gehende Geschichte. Danke.
Ich danke dir sehr, ja, das war beeindruckend, was die Dame da so zu erzählen hatte …
Herzlich willkommen auf Air,
Michael