Plötzlich war da eine Art Glaswand zwischen ihnen, alles Vertraute war wie weggeblasen, eine Eiseskälte kroch in ihr hoch und strömte mit einem leisen Sirren über ihre Haut nach außen, wo sie an dem Glas, das die Nähe zwischen ihnen ersetzt hatte, kleine Eisblumen bildete, die sie sogar hätte schön finden können, wenn nicht so viel auf dem Spiel gestanden hätte …
„Wir müssen Sie nach Lage der Dinge jetzt leider doch operieren“ hatte der Arzt gerade gesagt, und hatte sie damit auf dem falschen Fuß erwischt: wie vom Blitz getroffen saß sie da. Als die Gedanken wiederkamen, versuchte sie sofort, irgendeine Ordnung in sie hineinzubringen. Alles schien doch gut zu laufen, ihr kleines Problem heilte fröhlich vor sich hin, und gestern die Routineuntersuchung … nicht einmal als blasser Gedanke war in ihr die Befürchtung aufgestiegen, dass dabei irgend etwas Beunruhigendes herauskommen könnte.
Marie blickte ihrem Arzt mitten in die Augen, deren Ausdruck sie zu diesem Zeitpunkt uninterpretiert ließ, noch hatte sie keinen festen Boden unter den Füßen und fürchtete um ihre Kontrolle. Sie waren sich durch die wenigen Gespräche während der vergangenen Begegnungen näher gekommen, auch und vor allem in ihrer beider Auffassung von der heilsamen Wirkung der Leichtigkeit und Freundlichkeit, mit der man gesundheitliche Probleme anschauen sollte. Über die inneren Kräfte der Heilung war viel gesprochen worden, und wenn auch Marie gedanklich in dieser Hinsicht wesentlich weiter ging als ihr Arzt, so war doch auf einer gewissen Ebene ein Einvernehmen spürbar gewesen, das zu eben jener Vertrautheit geführt hatte, die jetzt den plötzlichen Kältetod gestorben zu sein schien.
Operation! Nicht die Tatsache, operiert werden zu sollen an sich war so schockierend für Marie, sondern die unvorbereitete Konfrontation mit dem Willen des Arztes, der mit dem ihren nicht zu vereinen war: sie würde sich nicht operieren lassen, dazu gab es in ihr ein eindeutiges „Nein“, das immer dann unmittelbar und klar in ihr die Antwort gewesen war, wenn sie in den vergangenen Wochen über eine solche Situation nachgedacht hatte, wie sie jetzt eingetreten war. Dieses „Nein“ hatte sich wie ein ganz schlichtes „Ja“ angefühlt zu einem guten Weg.
Sie würde sich jetzt gerade machen müssen, um ihren Willen durchzusetzen, und sie wusste, dass es dafür nötig war, sich von der Reaktion des Arztes auf ihre Weigerung vollkommen unabhängig zu machen. Gleichwohl merkte Marie, wie sie anfing, zwischen den Eisblumen Verbindungslinien zu ziehen, wie sie Konstellationen erfassen wollte und mögliche Szenarien durchzuspielen versuchte in dem verzweifelten Bemühen, wenigstens etwas von dem Wohlwollen des Arztes für sie zu retten, wenn sie jetzt gleich „Nein“ sagen würde.
Wie lange schauten sie einander schon an? Zehn Minuten? Eine Stunde? Eine Ewigkeit? Hätte man die Zeit gemessen mit einem unbestechlichen Chronometer, wären wahrscheinlich nur zehn, höchstens fünfzehn Sekunden dabei herausgekommen.
Sein Blick schien ihr hinter der Glaswand jetzt wie lauernd, freundlich zwar, aber auf entschiedene Distanz gegangen zu ihr: dort saß der Experte, hier die Beurteilte, und die Angst, die in dieser Situation enthalten war, gehörte, so schien sein Blick ihr mahnend zu sagen, definitiv auf ihre Seite der Wand.
Und dann … ein Moment der Erinnerung … an eine Alternative … und sie ließ einfach alles los: die Eisblumen, all die Verbindungslinien, die sie zwischen ihnen gezogen hatte und die das Glas schon fast undurchsichtig hatten werden lassen, die Glaswand selbst, die allein sie zwischen sich und ihren Arzt aufgerichtet hatte, was ihr überdeutlich wurde, als sie sie losließ … all das fiel einfach von ihr ab.
Und nur noch ein Gedanke schien zwischen ihr und dem Arzt zu stehen: In DIR IST keine Angst!
Hatte sie diesen Gedanken gedacht oder er? Und was war gemeint mit diesem „DU“? Der Arzt, die Operation, die Hierarchie der Situation, sie selbst? … Wie ein letzter Eishauch durchzog sie diese Frage nach dem Ort des DU, ein Hauch der Kälte, der aus ihr wich und kein Medium mehr fand, Gestalt anzunehmen, sich nur noch verströmte, um der Wärme des Vertrauens wieder Platz zu machen, die sie für einen Moment hinter ihre Glaswand verbannt hatte.
„Es sei denn“, hörte sie ihren Arzt freundlich sagen, „Sie haben das sichere Gefühl, eine Operation sei für Sie nicht die richtige Maßnahme, manchmal kennen die Patienten ja den besseren Weg als ihr Arzt. Dann würde ich selbstverständlich voll hinter Ihnen stehen!“.
Er hatte es schon gewusst. Und sie musste ihr „Nein“ nicht einmal selbst aussprechen: „Ich sehe Ihnen ja schon an, wie Ihre Antwort ausfällt“, lächelte er, und ihr blieb nur ein wortloses Nicken, in dem sich sein Lächeln niederließ und zu ihrem wurde.
Überglücklich verließ sie die Praxis, berührt von der Einfachheit der Lösung eines Problems, das im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht existent gewesen war. „Leichtigkeit“ und „Freundlichkeit“: wie eine Vorbereitung auf diesen einen Moment zwischen Arzt und Patientin wirkten jetzt die Gespräche auf sie, die sie zuvor geführt hatten. Und immer noch war der Raum um sie offen und weit.
*
Ihr Blick fiel auf einen Bettler, der an der Straßenecke hockte wie in einen endgültigen Stupor versunken. In ihrem Gefühl, die Welt umarmen zu wollen, ging sie zu ihm hin und legte ihm eine Münze in seinen Pappbecher. Da hob der Mann den Kopf, blickte sie an und streckte ihr die Hand hin, um sich zu bedanken. Sie nahm seine Hand, die übersät war mit Dutzenden kleiner Wunden und sich anfühlte wie ein lebloses Stück rissigen Holzes, derb und scheinbar undurchdringlich für jedes Gefühl, als hätte sie seit langem nichts Lebendiges mehr berührt.
Die Hand schloss sich um die ihre, und sie ließ es geschehen.
Jetzt schien der Mann sie wieder freigeben zu wollen, aber er öffnete seine Hand nur halb, nahm jetzt behutsam Maries Finger, um mit unfassbarem Zartgefühl ihren Handrücken zu seinen Lippen zu führen und ihn zu küssen. Diese Lippen hatten ganz offensichtlich lange, allzu lange nur noch dazu gedient, sein lückenhaftes und faulendes Gebiss zu verbergen, und sie waren ebenso aufgerissen wie seine Hände.
Sein Kuss aber war nicht von dieser Welt, und Marie nahm ihn an als das, was er war: eins der Wunder, die geschehen, wenn die Glaswand der Zweifel an der Anwesenheit einer ewigen VERTRAUTHEIT zwischen uns einfach nur … übersehen wird.
*
Dein Text und deine Sprache nehmen mich beim Lesen mit hinein und lassen beinahe den Atem anhalten. Sensibel und tief und hoffnungsvoll, deine Zeilen.
Herzlichen Dank für deine lieben Worte, aber mach mir bitte keinen Kummer! Du atmest doch wieder? Ach nein, du hast geschrieben: „beinahe“, ich bin beruhigt! Stell‘ dir mal vor ….. !
tief durchatmend, Michael
Jetzt atme und lache ich : )
Ich bin so tief berührt lieber Michael….von der Liebe , die i m m e r da ist …wenn auch manchmal für uns scheinbar hinter der Glaswand…und die Du in deiner Geschichte, aus einer hinter den Worten aufleuchtenden Tiefe , hervorscheinen lässt!!
…DIE EWIGE VERTRAUTHEIT…
Herzlichen Dank für diese Erinnerung!
Und Marie wünsche ich viel Erfolg mit ihrer Entscheidung.Schön, dass sie sich für sie so vollkommen richtig anfühlt!
Ganz liebe Grüße
Beatrix
Ganz herzlichen Dank, liebe Beatrix! Ja, das „IMMER DA“ sehen wir eben nicht immer, oder sogar eher selten. Und trotzdem ist es wahr. Wie schön, dass dich meine Worte auf dieser Ebene erreicht haben, danke!
Und Marie werde ich deine guten Wünsche ausrichten, wenn ich sie das nächste Mal sehe :~) !
Schön, dass du dich hier mal blicken lässt, willkommen „on air“,
Michael
Schön, wie Du die Leichtigkeit und Freundlichkeit betonst für die Kräfte der inneren Heilung. Sie läßt die Eisblumen schmelzen und führt zu einem Kuss der ewigen Vertrautheit. Dein Nein war die Ahnung von einem Ja.
Das Nein als Ahnung des Ja, wunderbar!
Vielen Dank, Heinz, für diesen wahrhaft poetischen und brüderlichen Kommentar!
Wie fein du die Wand aus Glas skizzierst, Michael. Und natürlich bist du ganz bei Marie. Um die geht es schließlich. Und der Arzt ist, obwohl er ihr auch nah ist, für einen Moment automatisch der, der handeln will um zu heilen. Auch das kann man verstehen. Oder genauer: Ich verstehe es, obwohl ich mich besser auskenne in der Rolle der Freundin der Marie. So schön, wenn dann plötzlich – eigentlich ganz ohne Worte – wieder klare Sicht herrscht. Nimmst du es mir sehr übel, wenn ich sage, dass mir der zweite Teil dieses Beitrags dann doch ein bisschen zuviel ist?
Liebe Maren,
herzlichen Dank für dein Mitgehen durch meine Geschichte … bis zum zweiten Teil, da machst du halt. Nein, liebe Maren, das nehme ich dir aber so was von überhaupt nicht übel, ganz im Gegenteil: ich finde es gut, wenn auch mal solche Töne in den Kommentaren auftauchen! Authentizität ist etwas sehr Wertvolles, eigentlich doch unsere einzige Möglichkeit, uns außerhalb vorgegebener Schienen und Strukturen zu orientieren.
Das gilt allerdings auch für mich. Die Ebene eines alles umfassenden und uns einenden GEISTES ist für mich erfahrene Wirklichkeit und hat meinem Leben die Richtung gegeben. In Momenten des Eingeständnisses der prinzipiellen Begrenztheit meines Denkens und gleichzeitig des Vertrauens in diese umfassende Ebene hat sich diese mir schon so oft und eindrücklich gezeigt, dass sie in mir nicht mehr zu leugnen ist.
All meine Gedichte und Texte sprechen davon, und mir ist vollkommen klar, dass sie genau in diesem Punkt allerallermeist eben nicht gesehen werden. Und das ist einfach so, es verkürzt die Wirklichkeit nicht, jeder sieht das, was seiner Weltanschauung entspricht, und für mein Weltbild ist die ganze Wahrheit immer in allen Anschauungen von ihr enthalten.
Ich habe Marie nur aus erzählerischen Gründen „erfunden“: es ist (leider?) meine eigene Geschichte, und sie ist eins zu eins erzählt. Den Bettler dürftest du mit ziemlicher Sicherheit sogar kennen, er sitzt in der Eppendorfer Landstraße vor dem Hansebäcker. Sein Kuss WAR nicht von dieser Welt. Für mich und mein Erleben. Davon erzähle ich … ich würde mal sagen: einfach so vor mich hin. Im Vertrauen, dass ich damit weitergebe, was für mich viel mit LIEBE zu tun hat.
Ich schätze deine Kommentare sehr und für mich ist zwischen der Aufrichtigkeit dieser Aussage und dem, was ich oben geschrieben habe, keinerlei Konflikt.
Herzlichen Dank,
Michael
Jetzt, da du mich an die Hand genommen hast, konnte ich dir folgen, Michael. Darüber freue ich mich sehr. Danke für deine offenen Worte! (Nicht, dass das wichtig wäre, aber auch als „erfundene“ wäre die Geschichte mit einem männlichen Protagonisten für mich irgendwie noch „stimmiger“.) Herzliche Sonntagsgrüße nach nebenan!
Das freut nun mich wiederum sehr! Und du hast natürlich recht: ein Mann hätte besser gepasst. Ich hatte aber Marie als mein „Double“ bereits in einer anderen Geschichte dieser speziellen Reise durch die Gesundheitsindustrie eingeführt. Desderwegen.
„Das Paradies ist nebenan“ heißt ein Roman von Cees Nooteboom. Auch meine herzlichen Grüße genau dahin!
Wunderschön. Vor allem der Kuss. Nein, da ist nichts zuviel. Da ist alles dort, wo es sein soll. Nein, nicht soll. Einfach ist. Herzlich, Silvia
Einfach ist. Danke!
Wunderschöne Begebenheit und eben so erzählt, lieber Micha! Der Kuss war „nicht von dieser Welt“ – das ist so! Du kennst die Textstelle: „Was ihr im Geringsten einem meiner Brüder antut, das habt ihn mir angetan“. Und so kommt zuweilen der Dank sicht-, hör- oder fühlbahr zurück. Hier durch den Kuss. Wunderschön! So wird die EINSHEIT zu mehr denn nur „grauer Theorie“; Dir war der Kuss ein heiliger Beweis. Du hast ihn verdient!
Danke dir, Achim, für deine Worte!
Wir gehen gemeinsam dahin, wo wir schon SIND!