Sie hat nie gemalt früher. Gesungen ja, den ganzen Tag, manchmal auch nachts, wenn sie nicht hat schlafen können, da hat sie ihr Repertoire rauf und runter gesungen, nie ganz gleich, immer in Variationen.
Das ist ihre Freiheit gewesen inmitten eines Lebens, in dem der Selbstausdruck nicht zu der Rolle gehört hat, die sie anzunehmen bereit gewesen ist.
Jetzt, mit dreiundachtzig, malt sie plötzlich Bilder. Oder die Bilder malen sie, das kann man nicht so genau sagen.
Sie hat verschiedene Techniken ausprobiert, Fingerfarben gehen gut, auch Wasserfarben und Pinsel, sie muss ihr Parkinson-Zittern mit einbauen in die Technik, was sie kommentarlos und wie selbstverständlich tut. Es entwickelt sich ganz von selbst ein impressionistischer Stil.
Manchmal schaue ich ihr dabei zu. Selten, dass sie wirklich malt, was sie ankündigt. Vollkommen versunken in ihre Tätigkeit trägt sie Farben auf, die sie zuvor sorgfältig gemischt hat – bei diesem Teilaspekt ihrer neuen Leidenschaft hat sie allerdings sehr konkrete Vorstellungen – nein, da muss noch ein Klecks Weiß dazu!
Mehr und mehr lasse ich meine Vorstellungen los, was es denn nun werden soll und verzichte auf Vorschläge, wie z.B. das Blatt herumzudrehen, damit der vermeintliche Himmel endlich nach oben kommt. Es soll ja vielleicht ein See werden. Wer weiß.
Irgendwann schaue ich dann wirklich nur noch zu. Und sehe sie. Kein Strich ist da wirklich am falschen Platz, nichts ist verzittert, eine Gesamtkomposition wird sichtbar, in der alles seinen rechten Platz hat.
Das vermeintlich Überschießende, Unperfekte, Inkomplette, Verwischte und Unklare kommt mir vor wie ein kräftiges Nein zu allem Vorgeformten, Festgelegten, Unlebendigen: sie, die Malerin, bleibt weiter für mich sichtbar, solange ich in mir nicht auf Korrektur nach meinen Vorstellungen bestehe.
Sie – und die Nähe zu ihr, denn sie malt auch mich und mein Bedürfnis nach Freiheit, nach dem Leben hinter der Form, nach lebendiger Verbindung mit allen Dingen.
Am Ende ist es ein Bild. Und die Frage kann offen bleiben, wer hier wen gemalt hat.
*
Hi mein Freund
Einen blutrüstingen Wolf erkenne ich auf linken Seite. Der hat gerade seine Beute zerlegt. Überall ist Blut.
Von unten beobachtet ihn ein Wesen, den ich nicht beschreiben möchte. Nur der Himmel lacht, ein bisschen. Unheimlich.
L.G.
Mirso
Hallo Mirso,
ich sehe Mohnblumen, einen Berg, Bäume, Wiesen, Büsche und jede Menge Wind.
Und durch die Wolken am freundlichen Himmel blitzt mir was entgegen, das …. Moment, ich muss noch mal genau …. also das gibts doch nicht!, das ähnelt meinem Freund Mirso! Hat ein bisschen Schalk im Nacken.
Ich hoffe, du kannst heut Nacht gut schlafen,
Herzliche Grüße, auch an deine Lieben,
Michael
Das sagst du nur, weil das Bild von eine Oma gemalt wurde.
Meiste Omas sind lieb, jedoch nicht alle. Eine hat schon Rotkäppchen aufgegessen, oder….
Das hat Rotkäppchen auch geglaubt. Da war aber Oma schon längst Geschichte! Bzw. hat im Bauch des Wolfs geduldig auf ihre Enkelin gewartet, die dann ja erwartungsgemäß dort eintraf.
Diese Märchen haben es manchmal im wahrsten Sinn des Wolfes … Wortes in sich. Man weiß nachher gar nicht mehr, wer wen gefressen hat und vor allem warum.
Meine Oma, also Schwiegermama, frisst keine Rotkäppchen. Aber sie malt jetzt.
Sie soll bloß weitermalen…👌✨
(Und Du beschreibst fesselnd wie sie aus dem Rad ihres Leben, ins Freie hinaus tritt, denn es liest sich so für mich…sie befreit sich…. Ich wünsche ihr noch viele Bilder und Dir viele Worte
Karfunkelfeegrüße
Oh ja, das tut sie, sie tritt ins Freie, mit dreiundachtzig und Kurzhaarfrisur. So cool! Danke dir, liebe Fee!
Wie wunderbar, dass sie und wie sie malt und wie du dem Worte schenkst. Sehr sehr schön
Danke von Herzen, liebe Marion!