Eine Frau sitzt mitten auf dem Meer an einem Tisch und malt ein Bild.
Ich entschuldige mich für diesen Satz. Er ist nicht vollständig, ein wesentliches Detail wurde weggelassen, welches ihn zu einem anständigen Satz gemacht hätte. Ich bitte um etwas Geduld, während ich versuche, auf einem kleinen Umweg die Vollständigkeit wieder herzustellen.
Die Frau malt von einer Fotografie ab, die vor ihr auf dem Tisch liegt. Sie ist noch nicht ganz fertig geworden mit ihrem Bild, ein paar Pinselstriche fehlen noch, ein paar Details. Ihr Bild ist so unvollständig wie mein Satz von der Frau auf dem Meer, aber es braucht nur noch ein paar Bewegungen, noch einen kleinen Augenblick, bis es das Bild geworden ist, das jetzt vor mir an der Wand hängt, an einem Ehrenplatz meiner Wohnung, seit vielleicht fünf Jahren.
Auch ich habe eine Fotografie vor mir, auf der die Frau zu sehen ist, wie sie gerade letzte Hand anlegt an ihr Bild, um es vollständig zu machen.
Die Frau ist meine Mutter. Und das Bild ist ihr Vermächtnis.
Sie schaut nicht den Fotografen an, während sie abgelichtet wird, sondern ist ganz auf ihr Bild konzentriert. Obwohl sie ruhig dasitzt, ist alles an ihr Bewegung, alles auf diese letzten Striche ausgerichtet, die das Bild vollenden sollen. Und sie ist glücklich, so vollkommen glücklich, wie ich sie nur selten gesehen habe, ihr Lächeln spricht von einer inneren Bewegtheit, die sich selbst von dem Fotografen nicht ablichten, nicht in sein Bild hinein bannen lässt, einer Bewegtheit, die nicht zum Bild werden kann, weil sie sich durch alles hindurchbewegen will, auch durch die Zeit, bis zu mir hin, der ich das fertige Bild betrachte, und weiter und immer weiter.
Sie malt etwas in ihr Bild hinein, was in der Fotografie, von der sie abmalt, noch nicht zu sehen ist: sich selbst, ihre pure Freude. Und das macht mir ihr Bild so wertvoll, durch das diese Freude immer noch zu mir fließt.
Ein Dorf unter grauem Himmel. Sie muss an ihr Heimatdorf gedacht haben, so vermute ich, während sie das Bild gemalt hat, dahin, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Man sieht in eine Gasse hinein, die auf einen Torbogen zuläuft, links von einer Häuserfront, rechts von einer Mauer begrenzt. Durch den Torbogen hindurch sieht man im Hintergrund weitere Häuser. Sie sind schlicht, fast ärmlich, in einfachster Bauweise errichtet, winzige Fenster, rissige Wände, grobe Holzzargen für die Türen, die offenstehen, das Innere dunkel.
Keine Menschenseele zu sehen, außer einem an der Häuserwand hochrankenden Efeu und einem Baum hinter der Mauer ist kein Leben zu erkennen, in gewisser Weise ist dessen Abwesenheit ein elementarer Bestandteil der Situation.
Wie damals, in den Jahren der Kriegsvorbereitung und des Krieges, da war der Himmel oft genauso grau und die Wände waren rissig geworden aus Sorge um die Zukunft: ein Dorf von Weinbauern, weit hier nur die Felder, die Gassen eng und die Häuser dunkel, die Angst hüllte alles in ihr schweres Kleid.
Der Vater ein Kunstschmied, der seine Vorstellungen von Schönheit und Klarheit der Formen mit Hammerschlägen in Eisen trieb und ebenso vehement seine Erziehungsgrundsätze an den vier Kindern anwendete, die zu seiner großen Enttäuschung allesamt Mädchen waren. Seine Frau, ihm blind ergeben, hatte nicht die innere Freiheit, ihre Töchter mit Liebe zu begleiten und zu schützen, und so versank so mancher Ausdruck kindlicher Liebes- und Lebensfreude in der Bodenlosigkeit elterlicher Willkür und Ignoranz und der helle Klang unbefangenen Lebens wurde allzu oft von den harten Tönen festgeformter Wahrheiten dumpf und tonlos.
Die Wände rissig und der Boden unsicher: grau war der Himmel geworden, als mein Vater, gerade aus russischer Gefangenschaft entlassen, unter dem Torbogen auftauchte und die Zweitjüngste der Mädchen aus dieser Enge herausheiratete.
Daran denkt sie, ich bin mir sicher, während sie ihr Bild malt. Sie kehrt noch einmal in ihr Dorf zurück. Und sie bringt ihm ein Geschenk mit.
Es braucht keine sichtbaren Menschen, um das Leben in ihr Bild zu malen: die warmen Farben der Wände lassen die eng beieinander stehenden Häuser unter dem grauen Himmel heimelig wirken, und man spürt eine Freundlichkeit, die geblieben ist, als die Bewohner sich ins Innere zurückgezogen haben oder zur Arbeit gegangen sind. Gleich werden sie zurückkehren, unter dem Torbogen werden sie auftauchen, wie damals der fremde Mann.
Über dem Durchlass ist der Torbogen weiter hochgemauert bis zu einem mit Dachpfannen gedeckten Giebel, der in der Mitte durch einen kleinen Turm durchbrochen wird, in den ein Fenster eingelassen ist. Aufgesetzt auf den Turm eine doppelte Krone aus geschmiedetem Eisen, dieses aber sanft gebogen und zwei offene Räume bildend: in den ersten, unteren und größeren, ist eine Glocke eingehängt, der zweite ist leergeblieben, um dem kleinen Kreuz ganz obenauf als Boden zu dienen.
Die Silhouette einer Kirche, eine Kirche ohne Kanzel, ohne Altar und ohne Raum, in dem sich eine Gemeinde aufhalten könnte: man verlässt sie schon wieder, indem man sie betritt, ist dabei nur für einen kurzen Moment im Lot mit den Symbolen des ewig gültigen Wortes und des todlosen Lebens. Eine Kirche, so unvollständig wie mein Satz von der Frau auf dem Meer und wie ihr Bild in dem Moment, als sie fotografiert wird. Unvollständig und dadurch einen Durchlass freigebend für die Erinnerung an den hellen Klang, der nie dumpf wird und tonlos, der auch damals nie ganz verklungen war in ihrem Heimatdorf trotz Krieg und Angst, unvollständig und dadurch eine Lücke lassend in der Aufzählung all der Brüche des Lebens, durch die der eine ewig sichere Boden wieder zu sehen ist.
Das Geschenk der Malerin an ihr Dorf ist mein Erbe: ein Bild der Freude darüber, letztlich von unverbrüchlicher Liebe getragen zu sein, ihr Bild, das sie vor rund zwanzig Jahren mit sicherer Hand vollendete während einer Kreuzfahrt mitten auf dem Meer.
( 02.09.2012 )