1) Nachlass

Eine Frau sitzt mitten auf dem Meer an einem Tisch und malt ein Bild.

Ich entschuldige mich für diesen Satz. Er ist nicht vollständig, ein wesentliches  Detail wurde weggelassen, welches ihn zu einem anständigen Satz gemacht hätte. Ich bitte um etwas Geduld, während ich versuche, auf einem kleinen Umweg die Vollständigkeit wieder herzustellen.

Die Frau malt von einer Fotografie ab, die vor ihr auf dem Tisch liegt. Sie ist noch nicht ganz fertig geworden mit ihrem Bild, ein paar Pinselstriche fehlen noch, ein paar Details. Ihr Bild ist so unvollständig wie mein Satz von der Frau auf dem Meer, aber es braucht nur noch ein paar Bewegungen, noch einen kleinen Augenblick, bis es das Bild geworden ist, das jetzt vor mir an der Wand hängt, an einem Ehrenplatz meiner Wohnung, seit vielleicht fünf Jahren.

Auch ich habe eine Fotografie vor mir, auf der die Frau zu sehen ist, wie sie gerade letzte Hand anlegt an ihr Bild, um es vollständig zu machen.

Die Frau ist meine Mutter. Und das Bild ist ihr Vermächtnis.

Sie schaut nicht den Fotografen an, während sie abgelichtet wird, sondern ist ganz auf ihr Bild konzentriert. Obwohl sie ruhig dasitzt, ist alles an ihr Bewegung, alles auf diese letzten Striche ausgerichtet, die das Bild vollenden sollen. Und sie ist glücklich, so vollkommen glücklich, wie ich sie nur selten gesehen habe, ihr Lächeln spricht von einer inneren Bewegtheit, die sich selbst von dem Fotografen nicht ablichten, nicht in sein Bild hinein bannen lässt, einer Bewegtheit, die nicht zum Bild werden kann, weil sie sich durch alles hindurchbewegen will, auch durch die Zeit, bis zu mir hin, der ich das fertige Bild betrachte, und weiter und immer weiter.

Sie malt etwas in ihr Bild hinein, was in der Fotografie, von der sie abmalt, noch nicht zu sehen ist: sich selbst, ihre pure Freude. Und das macht mir ihr Bild so wertvoll, durch das diese Freude immer noch zu mir fließt.

Ein Dorf unter grauem Himmel. Sie muss an ihr Heimatdorf gedacht haben, so vermute ich, während sie das Bild gemalt hat, dahin, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Man sieht in eine Gasse hinein, die auf einen Torbogen zuläuft, links von einer Häuserfront, rechts von einer Mauer begrenzt. Durch den Torbogen hindurch sieht man im Hintergrund weitere Häuser. Sie sind schlicht, fast ärmlich, in einfachster Bauweise errichtet, winzige Fenster, rissige Wände, grobe Holzzargen für die Türen, die offenstehen, das Innere dunkel.

Keine Menschenseele zu sehen, außer einem an der Häuserwand hochrankenden Efeu und einem Baum hinter der Mauer ist kein Leben zu erkennen, in gewisser Weise ist dessen Abwesenheit ein elementarer Bestandteil der Situation.

Wie damals, in den Jahren der Kriegsvorbereitung und des Krieges, da war der Himmel oft genauso grau und die Wände waren rissig geworden aus Sorge um die Zukunft: ein Dorf von Weinbauern, weit hier nur die Felder, die Gassen eng und die Häuser dunkel, die Angst hüllte alles in ihr schweres Kleid.

Der Vater ein Kunstschmied, der seine Vorstellungen von Schönheit und Klarheit der Formen mit Hammerschlägen in Eisen trieb und ebenso vehement seine Erziehungsgrundsätze an den vier Kindern anwendete, die zu seiner großen Enttäuschung allesamt Mädchen waren. Seine Frau, ihm blind ergeben, hatte nicht die innere Freiheit, ihre Töchter mit Liebe zu begleiten und zu schützen, und so versank so mancher Ausdruck kindlicher Liebes- und Lebensfreude in der Bodenlosigkeit elterlicher Willkür und Ignoranz und der helle Klang unbefangenen Lebens wurde allzu oft  von den harten Tönen festgeformter Wahrheiten dumpf und tonlos.

Die Wände rissig und der Boden unsicher: grau war der Himmel geworden, als mein Vater, gerade aus russischer Gefangenschaft entlassen, unter dem Torbogen auftauchte und die Zweitjüngste der Mädchen aus dieser Enge herausheiratete.

Daran denkt sie, ich bin mir sicher, während sie ihr Bild malt. Sie kehrt noch einmal in ihr Dorf zurück. Und sie bringt ihm ein Geschenk mit.

Es braucht keine sichtbaren Menschen, um das Leben in ihr Bild zu malen: die warmen Farben der Wände lassen die  eng beieinander stehenden Häuser unter dem grauen Himmel heimelig wirken, und man spürt eine Freundlichkeit, die geblieben ist, als die Bewohner sich ins Innere zurückgezogen haben oder zur Arbeit gegangen sind. Gleich werden sie zurückkehren, unter dem Torbogen werden sie auftauchen, wie damals der fremde Mann.

Über dem Durchlass ist der Torbogen weiter hochgemauert bis zu einem mit Dachpfannen gedeckten Giebel, der in der Mitte durch einen kleinen Turm durchbrochen wird, in den ein Fenster eingelassen ist. Aufgesetzt auf den Turm eine doppelte Krone aus geschmiedetem Eisen, dieses aber sanft gebogen und zwei offene Räume bildend: in den ersten, unteren und größeren, ist eine Glocke eingehängt, der zweite ist leergeblieben, um dem kleinen Kreuz ganz obenauf als Boden zu dienen.

Die Silhouette einer Kirche, eine Kirche ohne Kanzel, ohne Altar und ohne Raum, in dem sich eine Gemeinde aufhalten könnte: man verlässt sie schon wieder, indem man sie betritt, ist dabei nur für einen kurzen Moment im Lot mit den Symbolen des ewig gültigen Wortes und des todlosen Lebens. Eine Kirche, so unvollständig wie mein Satz von der Frau auf dem Meer und wie ihr Bild in dem Moment, als sie fotografiert wird. Unvollständig und dadurch einen  Durchlass freigebend für die Erinnerung an  den hellen Klang, der nie dumpf wird und tonlos, der auch damals nie ganz verklungen war in ihrem Heimatdorf trotz Krieg und Angst, unvollständig und dadurch eine Lücke lassend in der Aufzählung all der Brüche des Lebens, durch die der eine ewig sichere Boden wieder zu sehen ist.

Das Geschenk der Malerin an ihr Dorf ist mein Erbe: ein Bild der Freude darüber, letztlich von unverbrüchlicher Liebe getragen zu sein, ihr Bild, das sie vor rund zwanzig Jahren mit sicherer Hand vollendete während einer Kreuzfahrt mitten auf dem Meer.

( 02.09.2012 )

 

 

Heilsame Einfalt

 

Ich bin mit Dir im Geist als Eins verbunden,
Nicht als die Zwei, wie wir uns seh’n,
Schon lang’ hab’ ich das so empfunden,
Nur konnt’ ich mein Empfinden nicht versteh’n.

Ich will mit Dir in Eins gesunden,
Und all’ millionenfache Pein,
Des Krieges messerscharfe Wunden,
Soll’n in uns Zwei’n in Eins geheilet sein.

*

Doch noch alles gut!

„Ich steh’ auf der Abschussliste!“, hat sie gerade eben noch gesagt, und jetzt schläft sie neben mir selig wie ein Kind, das Gesicht ganz entspannt und die Augenlider so sanft geschlossen, als schaue sie hellwach durch sie hindurch in eine glückliche Welt ohne Schmerz und ohne Sorge, ihr Atem so ruhig wie das leise Kräuseln an der Oberfläche eines tiefen Sees.
Zwei Stunden werden es wohl gewesen sein, die wir uns unterhalten haben auf der gemeinsamen Zugfahrt von Köln nach Hamburg, das Wetter, der Sommer, der mal wieder keiner ist, das Angenehme am Zugreisen und das Unangenehme, haben das Frühere mit dem Jetzigen verglichen und dabei das Frühere besser abschneiden lassen, und uns so die  Zeit etwas verkürzt.
Es ist spürbar gewesen, dass sie sich vorgenommen hat, nicht über sich zu sprechen, wahrscheinlich, weil sie sich damit als aufdringlich empfindet, aber dann tut sie es doch. Es wird eine Erzählung, die eine dreiviertel Stunde lang anhält und bei der ich eigentlich nur zuhöre, habe ich zwei Dutzend Worte gesagt in dieser Zeit?
Als ihr Mann gestorben war, begann ihr Abstieg hinab zu dem Punkt, an dem sie jetzt steht. So empfindet und so erzählt sie ihre Geschichte, als einen Abstieg: das zunehmende Alleinsein, immer mehr Freunde und Verwandte um sie herum verlassen sie, und dann beginnen ihre Krankheiten, erst harmlos, dann ernster, schließlich bedrohlich: die Bauchspeicheldrüse hat sich gefährlich entzündet, nur mit hohem Aufwand ist das Problem in Schach zu halten, seit vier Jahren muss sie halbjährlich zur Untersuchung in eine Spezialklinik, auch heute ist sie dorthin unterwegs. Und jedes Mal die bange Frage: ‚Wie wird das Urteil der Ärzte lauten?’
Jetzt ist auch noch vor zwei Monaten ihre beste Freundin an genau derselben Krankheit gestorben, „und dann bin ich ja auch schon 84“. Das hat geklungen, als wolle sie sich entschuldigen dafür, dass sie überhaupt eine Krankengeschichte brauche, um auszusprechen, was ihr eigentlich auf der Seele brennt:
„Ich steh’ auf der Abschussliste!“
„Ich bin nur froh, dass es diese Liste gar nicht gibt!“, habe ich einfach nur gesagt, mehr ist mir im ersten Moment nicht eingefallen, und dann ist sie auch gleich eingeschlummert, so dass es dabei geblieben ist.

Auch jetzt – der Zug fährt gerade in den Hamburger Hauptbahnhof ein – frage ich mich, ob ich sie wecken soll, um ihr wenigstens zum Abschied „Alles Gute“ wünschen zu können, aber sie schläft immer noch so schön und ich weiß, dass sie erst in Altona aussteigen will – ich lasse sie schlafen. Leise stehe ich auf, packe meine Siebensachen zusammen und gehe als Letzter in der Schlange in Richtung Tür. Im Hinuntersteigen auf die obere der beiden Stufen drehe ich mich doch noch mal nach ihr um: da sitzt sie aufrecht an ihrem Platz und hat die Hand erhoben, wartend, ob sie noch Gelegenheit haben werde, mir zu winken. Ihr Gesicht strahlt, als sie mich nach ihr umdrehen sieht und heftig winkt ihre Hand, wie um die Zeit, die sie warten musste, aufzuholen, während sie mir durch die sich schließende automatische Zwischentür zuruft: „Alles Gute!“
Da bin ich schon draußen und denke, an der Wirklichkeit vorbei, aber heilfroh: „Jetzt hab’ ich es doch noch gesagt!“

 ( 10.08.2012 )

Des pudelnassen Kerns

„Da sagen sie ‚Klimaerwärmung’ zu!“, der Ältere der beiden schon betagteren Männer, die mit mir eine Schicksalsgemeinschaft bilden, zeigt auf die Wand aus strömendem Regen, welcher uns unter dem schützenden Dach einer Bushaltestelle zusammengeführt hat. Ich bleibe stehen, während sich die beiden Herren auf die kleine Plastikbank setzen. Sie sind, ich könnte jetzt sagen: „stark betrunken“, aber schon der Ausdruck wäre zu nüchtern, sie sind sternhagelvoll! Ihre Bewegungen werden längst von einem Geist kontrolliert, der weniger auf feinmotorisches Zusammenspiel denn auf unbeschränkte Freiheit für jeden Muskelimpuls, sich Richtung und Stärke selbst zu wählen, setzt. Ihre Kleidung – beide tragen sie Anzüge – ist aus feinem Tuch, hat jedoch bei ihrer gemeinsamen Reise durch die Nacht Ordnung und Würde in einem Maße eingebüßt, das durchaus Rückschlüsse auf die Intensität der zurückliegenden Ereignisse zulässt.

Väterlich hat der Redner einen Arm um seinen jüngeren Begleiter gelegt, und fügt hinzu, während er den anderen Arm immer noch ausgestreckt in Richtung auf den vor uns niederprasselnden Regen hält:

„Das ist die Wissenschaft!“

„Genau!“ antwortet der Umarmte in einem Ton, der durchklingen lässt, dass diese und ähnliche Betrachtungen schon die ganze Nacht hindurch angestellt worden sind und man bereits zu einem umfassenden Konsens hinsichtlich fundamentaler Einsichten in das Werden und Wirken der Welt gelangt ist.

Und so klingt es auch wie eine Zusammenfassung bereits ausführlich abgehandelter Themen, als die beiden noch einmal ausholen, um der Wissenschaft ihre Grenzen aufzuzeigen:

„Jetzt sagen sie, wir kommen gerade aus einer kleinen Eiszeit und erholen uns nur davon, das ist das Allerneuste!“, noch immer zeigt er auf den Regen, während der siamesische Kommentar  des Freundes fugenlos ergänzt:

„Die rudern zurück, weil’s nicht klappt mit der Klimakatastrophe!“

„Die Wissenschaftler!“, jetzt erst scheint der Hauptredner seinen ausgestreckten Arm zu bemerken und zieht ihn verwundert zurück,

„die denken sich irgendwas aus, dann rechnen sie hin und her, bis es passt und verkaufen es uns am Ende als die Wahrheit!“

„Genau!“ Sein jüngerer Bruder im Geiste ist von dieser bedeutungsschweren Erkenntnis tief beeindruckt, löst sich aus der Umarmung seines Mentors, richtet sich auf und wendet sich ihm zu, um ihm mit dieser Geste den gebührenden Respekt zu zollen. Der so Geehrte bemerkt jetzt selbst die ganze Tragweite seines Gedankengangs, woraufhin er die gleiche Haltung annimmt wie sein Weggefährte, so dass die beiden sich nun anschauen wie zwei Männer, die etwas Großes erreicht haben.

So verharren sie eine ganze Weile, bis der Meister noch einmal anhebt, alles zusammenzufassen, alle Gedanken der Nacht zueinanderzuführen, das gemeinsame Gespräch auf einen, auf den Punkt zu bringen und in brüderlichem Einvernehmen mit seinem Gegenüber der Welt zu sagen, was sie im Innersten zusammenhält:

„Wir wissen nichts!“ sagt er langsam und bedeutungsvoll,

„rein gar nichts!“

Das beidseitige schwungvoll-begeisterte Zunicken daraufhin hätte zweifellos eine schwere Kollision der beteiligten Schädel zur Folge gehabt, wenn derselbe Geist, der die Bewegungen zu einem Glückspiel macht, nicht auch etwas Traumwandlerisch-Präzises mit sich bringen würde.

Und so sehen sie sich an, Stirn an Stirn, schauen sich abgrundtief in die Augen und sinken dann wie erlöst nach hinten um, der Eine im Arm des Anderen, um sich herum eine wenn auch olfaktorisch markante Aura höchsten Friedens: die letzten Fragen beantwortet, zu Ende gedacht, der Mensch an seinem Ziel.

Tief atmen sie die Regenluft ein und freuen sich an den Elementen, die ihnen keine weiteren Fragen mehr aufwerfen können, Alles ist Antwort, Alles Einklang.

Dankbar und demütig ordnen sie sich schließlich wieder ein hinter den großen Vertretern der geistlichen Verbrüderung, in der schönen Gewissheit, dazuzugehören:

„Wie spät is’ eigentlich?“

„So halb sechs durch.“

„Verdammt früh!“

„Der Papst steht immer so früh auf.“

„Der Dalai Lama auch!“   …

„Normal is’ das nix für mich, so früh!“

„Man hat mehr vom Tag …“

„Ich schlaf‘ lieber ’n bisschen länger …“

Als der Bus hält, schaut der Fahrer etwas enttäuscht durch die eigens für uns geöffnete Tür, da sein Angebot, die drei Wartenden in seine Obhut zu nehmen, auf so wenig Resonanz stößt: Zweie träumen den glücklichen Traum der Gerechten und der Dritte geht wieder hinaus in den nachlassenden Regen und weiter seines Weges.

( 03.08.2012 )

 

 

Meine Seele wohnt in Deiner Nähe

Eine ganze Weile sitze ich jetzt schon hier in einem sehr hübsch eingerichteten, geräumigen Zimmer und warte auf den Arzt. Ich muss an eine kleine Angst denken, die mich vorhin beschlich, als ich meine Wohnung verließ: wie schade wäre es, wenn ich hier einmal wieder ausziehen müsste, aus diesem Zuhause, das mir die Wohnung geworden ist. Und ich war ein wenig traurig geworden bei dem Gedanken, dass sich das Erreichte, das Sichere, das Schöne immer wieder mit der Angst vermischt, es verlieren zu können.

Wie eng sind doch unsere Wohnungen, die wir uns aus Angst gezimmert haben!

Was ist aus der unendlichen Weite, der Allumfassendheit geworden, die wir empfanden, als wir noch … wie soll man das sagen? … in  Deiner Nähe waren?

Bretterverschläge aus Vor-Teilen, ausgeschmückt mit Tand.

Wir haben Deine Nähe falsch verstanden, an Bedingungen geknüpft, abgeschirmt gegen Bedrohungen, verteidigt gegen die Gefahr, sie zu verlieren, wir haben sie mit unserer Abwehr klein gemacht, in ein Reservat gepfercht, das wir glauben, kontrollieren zu können.

Deine Nähe, Sie ist doch immer noch Hier, ist doch ewig! Wie konnte ich das vergessen? Die Angst, dies Gefühl des Abgrunds, des Verlustes, sie hat mich Sie vergessen lassen, Deine Nähe, in der Alles zu Hause ist.

Dieser Ton, den die Cellistin spielt auf dem Bild an der Wand, das ich betrachte, während ich im Zimmer des mir noch Unbekannten auf ihn warte, von dem ich mir einen guten Rat erhoffe – wir haben einen Termin, wie man sagt – dieser kleine, einzelne Ton, ein paar Luftschwingungen, mehr nicht, ein leises Vibrato, das aus tiefer Stille kommt, sie spielt ihn und hält sich mutig aufrecht hinter einer Wolke aus Angst, die tiefrot über ihrem Herzen immer dunkler wird und etwas Bedrohliches annimmt. Sie spielt ihn dennoch, er ist ihre Tür zur Erinnerung.

Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man ringsumher all die Bürogebäude der Ost-West-Straße – da bekommt „Nähe“ einen anderen Sinn -, jedes nach außen gegen den Nachbarn und gegen die Straße drängend, auf der sechsspurig der Verkehr tobt, dies sich mühsam in Schach haltende Wutgebrüll. Nur der Turm des Michel überragt noch die Szene, ganz haben sie ihn nicht verstellen können.

Ein einzelner Celloton steht dem gegenüber. Hörst du das Lachen der einen Seite und siehst Du das Lächeln der anderen?

„Meine Seele wohnt auch in Eurer Nähe, die ihr so gründlich vergessen habt“, das singt dieser einzelne, lächelnde Ton.

Auch die Orchidee auf dem Schreibtisch hat sich in diesem Raum aufgerichtet, nichts wissend von Angst und Zorn ihrer Umgebung, in einer unendlich anmutigen Schwingung ist sie nach oben gewachsen, wo sie aus ihrem schlanken Kelch aus Blütenblättern das nach oben hin immer dunkler werdende Rot einfach … ausschüttet … in Deine Nähe.

So schön ist die Unschuld der Erinnerung, so heil ist das Leben, so wahr ist meine Liebe zu Dir.

 ( 20.07.2012 )

Wir Kinder

Mein Vater war das, was man einen ‚starken Charakter’ nennt, von großer Entschluss – und Tatkraft, fähig, andere Menschen treffsicher auch in ihren hintergründigen Motiven zu beurteilen und sie in seiner rheinländisch-humorigen Art für sich einzunehmen, seine Rede war plastisch und von kräftigen Farben bestimmt, Unklarheiten waren ihm zuwider, er sprach in deutlichen Worten.

Mühelos konnte er einen ganzen Saal mit Anekdoten aus seinem Leben unterhalten oder eine abkühlende Stimmung mit seinem Klavierspiel wieder anheizen und wenn nötig stundenlang auf hohem Niveau halten, bevor er mit einem entschlossenen ‚Auf Wiedersehen, Auf Wiedersehen’  das Ende der Veranstaltung musikalisch herbeiführte.

Ja, er gab gerne den Ton an, aber er traf ihn, Meister der Improvisation, fast immer in einer Art, die für Andere auch inspirierend und bereichernd war.

Gleichwohl hatte er auch eine zartfühlende Seite, mit der er allerdings in Konflikt war; mächtig angezogen vom Reinen, Leichten, Schönen, war er doch voller Zweifel an deren Kraft, sich behaupten zu können in dem Kampf, der das Leben für ihn war.

So sah ich ihn einmal am Fenster sitzen und weinen, als die große Magnolie in unserem Garten, die doch gerade erst erblüht war, schon wieder begann zu welken und die ersten Blütenblätter fallen ließ.

Man muss kein Psychologe sein, um erahnen zu können, wie ein Mensch, der viele Jahre seiner Jugend im Krieg und später als Gefangener in einem Bergwerk zubringen musste, zu solchen Zweifeln gekommen war.

Ich kann mich noch ziemlich genau an eine Waldwanderung mit ihm erinnern, als er uns Kindern einen Schmetterling zeigte, der auf einem Blatt saß, die Flügel zusammengefaltet, ganz ruhig saß er da. Mein Vater erklärte uns, dass man die Flügel nicht anfassen dürfe, weil man sonst die feine Staubschicht zerstören würde, die notwendig sei, damit der Schmetterling fliegen könne.

Das brachte uns natürlich zum Staunen, und wir näherten uns dem Blatt und seinem Gast nur mit größter Vorsicht, die Hände hinterm Rücken verschränkt und mit angehaltenem Atem, um bloß nichts von dem wertvollen Staub zu berühren oder wegzupusten.

Mein Vater aber blieb zurück, und als wir uns schließlich wieder zu ihm umdrehten, hatte sein Gesicht einen Ausdruck angenommen, den wir damals nicht verstanden.

Es war abgrundtiefe Sehnsucht und eine unendliche Traurigkeit, die sich in seinem Gesicht spiegelten, als er uns so bei dem Schmetterling stehen sah.

Viele Jahre später hatte ich das unbeschreibliche Glück, dass die Frau meines Herzens die verwegene Idee hatte, mich heiraten zu wollen. Ich erklärte mich schnell einverstanden, bevor sie es sich anders überlegen würde und auch mein Vater freute sich so sehr über die Aussicht, Schwiegervater zu werden, noch dazu von seiner Traum – Schwiegertochter, dass er die Hochzeit schon organisiert hatte, bevor einer der Beteiligten alternative Konzepte ersinnen konnte. Und so kam es auch, dass wir im November heirateten, der nicht gerade als typischer Hochzeitsmonat gelten kann.

Es wurde ein glücklicher Tag. Der Held hieß Achille, ein schwarzafrikanischer Priester mit herrlich französischem Akzent, der sich die Fähigkeit bewahrt hatte, trotz Robe und Ritual aus dem Herzen zu sprechen und den Gott, an den er glaubte, auch im Gesang einer unserer Freundinnen sehen zu können, die heimlich gemeinsam mit dem Organisten ein Liebeslied einstudiert hatte, das sie uns jetzt vortrug. Der Priester wäre fast in die Knie gegangen vor Rührung und wir mit ihm.

Auch mein Vater sagte ein paar Worte, ganz wenig sprach er, so hatte ich ihn noch nie erlebt; als nicke er nur der Situation zu: es ist ja Alles gesagt!

Keine große Kirche war es, in der die Zeremonie stattfand, nur eine kleine Kapelle auf einer Anhöhe im Schwäbischen Land, keine große Hochzeitsgesellschaft war zusammengekommen, und auch die anschließende Feier muss eher bescheiden genannt werden.

Es war ein glücklicher Tag. Wir hatten einander „Ja“ gesagt.

Am nächsten Tag aber geschah etwas Außerordentliches. Nur darauf zielt meine Erzählung eigentlich ab, davon zu sprechen war meine Absicht, und ich muss Euch um Verzeihung bitten, dass ich so weit ausgeholt habe, aber ich hätte vom bisher Gesagten nichts weglassen können, ohne dem Folgenden den Sinn zu nehmen:

Wir, meine Frau und ich, waren mit meinem Vater zum Frühstück in seiner Wohnung verabredet und trafen ihn in seiner Lieblingsecke am Tisch sitzend an, der bereits reich gedeckt war. Vor ihm stand ein Becher mit dampfendem Kaffee, noch randvoll, die Zeitung lag ungelesen neben ihm: der Tag war bereit, aber noch nicht angebrochen. Wir begrüßten einander und setzten uns zu ihm, aber keiner von uns wollte so recht mit dem Frühstück beginnen. Etwas lag in der Luft, was zuerst noch gesagt werden wollte, von ihm, meinem Vater, gesagt werden wollte.

Er sah uns eine kleine Weile nur an, ganz ruhig, und in seinem Gesicht stand ein Staunen, als er es schließlich aussprach:

„Gestern, Kinder, das war der schönste Tag meines Lebens.“

„Hat er ‚meines Lebens’ gesagt?“, musste ich denken, ich erschrak fast über die Frage, aber bevor sie andere Gedanken nach sich ziehen konnte, wurde sie wie aufgesogen von der Atmosphäre inniger Vertrautheit, die sich jetzt im Raum ausbreitete.

Und da war es, als stünden wir alle Drei wie damals, wie die Kinder, staunend und ehrfürchtig vor etwas unendlich Zartem, die Hände auf dem Rücken verschränkt und mit angehaltenem Atem, um es nur nicht zu stören.

Aber diesmal entfaltete sich dies zarte Wesen, als die Freude, Zeugin der Unantastbarkeit des Lebens, rein und leicht und schön flog sie auf, war für einen Moment unser Atem, während Sehnsucht und Traurigkeit, Du und Ich, Werden und Vergehen tausendfarbig zwischen uns schillerten wie in den Flügeln des Schmetterlings, der endlich, endlich ins Licht fliegen darf.
Es war ein glücklicher Tag. Wir hatten einander „Ja“ gesagt. Wir Kinder.

Wer bist Du?

 

Ich verbinde mich mit Deinem Horchen
auf die Quelle des Vertrau’ns,
was auch immer uns geschieht,

durch die Zeit hindurch, die auf das einst Gewes’ne zeigt
als der Ursprungsstelle allen Welterbau’ns
und endlos nur der Gegenwart entflieht.

Du bleibst still bei mir und ich versteh‘:
nur an mir liegt, was ich in Dir seh‘.

*

Blätterrauschen

Als sie gestorben war, lagen wir, die wir sie in ihrer letzten Zeit begleitet hatten, vollkommen erschöpft unten im Wohnzimmer auf dem Fußboden – sie, ihren Körper, oben in ihrem Zimmer zurücklassend – mit uns allein …

… allein mit mir … leer … einfach nur leer.

Das Erste, was wiederkam, war das heraufdämmernde Frühlingslicht, welches das Zimmer allmählich erhellte. Ich fühlte das Bedürfnis nach frischer Luft, nach Draußen, nach Weite, stand auf und öffnete die Terrassentür. Unendlich sanfte Luft strömte mir entgegen, als ich hinaustrat ins Freie. Ein leiser Wind bewegte die Blätter der Bäume, sonst nichts, tiefste Ruhe.

Da kam sie wieder zu mir. Aus Allem, den Blättern, dem Wind, den Wolken, dem Gras der Wiese, aus Allem schaute sie mich an und flüsterte mir zu: „Gestorben bin ich, lieber Bruder, aber tot bin ich nicht.“

Irgendwie hob es mir die Arme hoch, ich wollte dieses Flüstern einatmen mit jeder Zelle, es sollte mich anfüllen bis obenhin.

So stand ich da, die Arme erhoben, als wir uns unvermittelt anschauten: in vielleicht dreißig Metern Entfernung stand – wohl schon länger – ein junger Vater auf dem Balkon seines Hauses und hielt einen Säugling im Arm, der selig zu schlafen schien. Alles schwieg eine wortlose Ruhe.

Wir schauten einander an, der Mann schien nicht irritiert zu sein von meinen erhobenen Armen, die ich jetzt langsam herunternahm, tiefe Dankbarkeit empfindend für diesen Vater mit seinem Kind, der mich nicht allein ließ in einem Moment, der mein Leben vollkommen verändert hat. Ich nickte ihm kurz zu und ging wieder hinein.

Wieder hinein.

(  22. Juni 2012 )

Gegenwart

 

In einem Augenblick war alles gut,
Dein Blick mich traf durch Deine Zeilen.
In all den Jahren Angst und Mut
konnt‘ niemals ich derart verweilen

In eines Anderen Wort.
Und alle Lebensungewissheit schwand,
verging in diesen heimatlichen Ort,
wo ich mich Dir in jenem Augenblick verband.

*

Wörter

 

… wie niedergetretenes Gras,
vom Vorwurf unterlaufen
knicken sie ein
und ducken sich vom Licht weg ins Dunkel,
jagen Dich in Schuld und Pflicht,
im Namen dessen, was ist,
was gilt in dieser Welt:
Recht, Ordnung, Normalität, Realität.

Dir geht der Atem aus,
Du kannst nichts gegen ihre Wirklichkeit sagen,
und hörst sie doch
nach Antwort zum Himmel schreien
in ihrer sprachlosen
Niedergetretenheit:
krank, schuld, unheilbar, zu spät,
verspielt, verdammt, verurteilt,
verjagt, vertan, verloren,
gefoltert und gequält,
von allen guten Geistern verlassen.

Klang erstarrt zu Schmerz.

Ihre Spuren, die sie durch den Geist ziehen,
kreuzen sich dort, wo alles ist, was nicht mehr ist:
im Tod.
Und unaufhörlich suchen sie ihr Opfer,
Dich,
um im Namen ihrer Wirklichkeit
den Vorwurf auf Dir abzuladen:
Du bist schuld
an der Zerstörung unserer schönen Welt.

Doch mitten im Lärm
diese stille Lilie,
von der Du spürst, nein: hörst,
dass sie nie einknicken würde,
auch wenn der schwerste Stiefel über sie käme.
Woher kommt dieses Wort?
In wessen Namen vertritt es das, was ist?

Wörter wie Vogelfedern,
getragen von Dankbarkeit,
der Luft und dem Licht sich hingebend,
von der Liebe selbst
zusammengehalten in Leichtigkeit
und mit Sinn erfüllt.

Blütenlicht
winkt die Blume
dem federleichten Vogel zu,
und von der Macht dieses Grußes
richtet sich das Gras ringsumher
wieder auf.

*